Der Himmel: Sehnsucht nach einem verlorenen Ort

Ausgabe: 2012 | 3

Nicht weniger als die Geschichte des Himmels nimmt Reimer Gronemeyer in seinem jüngsten – und es sei mit großer Dankbarkeit gleich eingangs bekannt – großartigen Buch in den Blick. Als Theologe und Soziologe hat der Autor gewissermaßen das gesamte Spektrum seines Themas ausgebreitet und mit größter Virtuosität und Selbstverständlichkeit fügt er den Kosmos der Mythen, der (abendländischen) Naturwissenschaften, der Literatur und bildenden Kunst in seine große Erzählung ein.

 

 

 

Himmelsgefühle, alt und neu

 

Im einleitenden Kapitel, „Hoffnung und Angst“ betitelt, wird der Himmel zunächst als „Spiegelbild menschlicher Macht und Ohnmacht“ thematisiert.

 

„Himmel“ und „Heimat“, so ein früher Hinweis auf uns längst nicht mehr Bewusstes, sind etymologisch eng verbunden, beide bieten sie Schutz, sind uns „Dach“ und „Firmament“. Doch abgesehen davon, dass die meisten Menschen heute, selbst wenn sie es wollten, keinen Blick mehr auf den Himmel werfen können, da uns Abgase, Staub oder der Glanz der Neonlichter den einstigen Sitz der Götter entrückt haben, sei er uns heute „ins Unendliche verflüssigt (…), ein Symbol für die entgrenzte Heimatlosigkeit des Menschen im All“ (S. 22). Dies, so Gronemeyer, sei weder dem Zufall noch neuzeitlicher Hybris geschuldet, sei doch die Kosmologie (wie sie etwa die Griechen an der Wiege der europäischen Kultur erzählten) „immer auch schon Entzauberung des Himmels, Schöpfungskritik“ gewesen (S. 32). Die Zeiten, da der Himmel einem Tempel geglichen und ihm Gebete oder gar Menschenopfer dargebracht wurden, um den Aufgang der Sonne zu sichern, gehören längst der Vergangenheit an. Heute sei der Kosmos im besten Fall Labor, weitgehend totes Material, das der Mensch auf Spuren von Leben und pro futuro als Ressourcenlager durchsuche. Zerbrochen aber erscheint die Einheit des Kosmos. „Die Astrophysik kann sich nicht mehr verbinden mit der Ehrfurcht vor der Schöpfung, vor der Natur, vor einem Gott. Sie lehrt uns, dass wir in einen toten Himmel schauen – denn das meiste, was wir da sehen, ist schon längst vergangen.“ (S. 42).

 

Wir täten gut daran, meint Reimer Gronemeyer, uns des traditionellen Wissens um den Himmel zu vergewissern. Bedroht sei er durch unsere Ruhelosigkeit ebenso sehr wie durch sein Entschwinden. Begriffe wie „Hüben und Drüben“, oder die Vorstellung, dass „die Welt von Gottes Hand gehalten sei“, erschienen uns heute meist ohne Bedeutung. Der Preis der Beschleunigung und Individualisierung seien indes „leere Seelen“, die den Himmel allenfalls in den permanent beleuchteten Einkaufstempeln suchten. Ersatz für den verlorenen Himmel?

 

 

 

Die Entzauberung …

 

Ausführlich erzählt Gronemeyer von der Entzauberung des Himmels durch die modernen Naturwissenschaften. Stellvertretend genannt seien Giordano Bruno, Nikolaus Kopernikus, Galileo Galilei und Stephen Hawkins, der sich mit der Aussage „Nicht die Geschichte macht uns, sondern wir machen Geschichte durch unsere Beobachtung“ selbst göttliche Attribute zuschreibe, konstatiert Gronemeyer.

 

Doch „Können wir ohne Himmel leben?“, fragt der Autor im abschließenden dritten Teil seiner Reflexionen. Wäre es besser, vom Himmel zu schweigen? Wollen wir uns einzig auf das (irdische) Haben konzentrieren und das (himmlische) Sein auf immer verdrängen? Ist gelingendes Leben unter diesen Bedingungen denkbar? Wir wären, so der Autor, gut beraten, an der „Himmelssehnsucht“ festzuhalten, denn in ihr manifestiere sich der „Aufstand gegen die Nichtigkeit, gegen die himmellose Resignation, die sich aufdrängt mit dem Satz: Hat doch alles keinen Sinn“ (S. 200).

 

 

 

und Wiederentdeckung des Himmels

 

Man muss gewiss nicht allen Assoziationen des Autors folgen, die er als Argumente für die Wiederentdeckung des Himmels anführt. Und doch erscheint vieles höchst aktuell, gerade weil es auf Erfahrung und Erinnerung gründet. Etwa der Gedanke eines Meister Eckart, der jenen als arm erachtete, der „den Himmel nicht will, vom Himmel nichts weiß und den Himmel nicht hat“. Sätze wie diese seien Ausdruck einer auch heute sinnstiftenden „religiösen Radikalität“, die uns lehren kann, uns „von Arroganz, der Illusion des Habens und der Besserwisserei“ [zu befreien] (beide Zitate S. 266). Letztlich aber, so Reimer Gronemeyer, sei und bleibe „der Himmel Geheimnis, und auch „darin steckt das Wort ‚Heim’, die Heimat. Zum Geheimnis gehört die Verborgenheit. Wer ein Geheimnis lüftet, der zerstört es“ (S. 272).

 

Was uns bleibt, sind ahnungsvolle Erkundungen, die der Autor, so treffend „Bruchstücke des Himmels“ nennt (s. Kasten). Reimer Gronemeyer hat mit diesem Werk eines der schönsten und tiefsinnigsten Bücher vorgelegt, die mir in jüngster Zeit zu lesen gegönnt war. W. Sp.

 

Gronemeyer, Reimer: Der Himmel: Sehnsucht nach einem verlorenen Ort. München: Pattloch-Verl., 2012. 304 S., € 22,99 [D], 23,70 [A], sFr 31,-

 

ISBN 978-362902-283-7