Das Omnivoren-Dilemma

Ausgabe: 2011 | 2

Die Evolution hat es mit uns Menschen gut gemeint: Ausgestattet mit einem überproportional entwickelten Denkapparat und einem Magen, der so gut wie alles verträgt – Omnivoren, also Allesfresser, sind neben dem Menschen nur noch Ratten –, ist unsere Spezies dafür prädestiniert, sich selbst in kargen Zeiten zu behaupten und die überlebensnotwendige Kalorienzufuhr zu sichern, um sich prächtig zu entfalten und zu vermehren. Dieses Programm hat über Jahrtausende offensichtlich bestens funktioniert, stellt uns aber heute vor eine Fülle gravierender Probleme.

 

Eines davon lautet schlicht: Was sollen wir essen? Dieser einfachen Frage widmet Michael Pollan, Professor für Journalismus an der Universität Berkeley, Kolumnist der „New York Times“ und erfolgreicher Buchautor, gleich mehr als mehr als 600 Seiten. Radikal, konsequent, bissig im besten und umfassenden Sinn, witzig und tiefgründig durchmisst Pollan den langen Weg unserer Nahrungskette, vom Erdboden bis auf den Teller, und dies gleich dreifach. Auf der Basis persönlicher Erkundungen, die ihn kreuz und quer durch die USA führen, ergründet er die Absurditäten und Ungeheuerlichkeiten der industriellen Nahrungsmittelproduktion, beschreibt und bewertet Potenziale, Risiken und Widersprüche der bio-landwirtschaftlichen Lebensmittelerzeugung und erprobt sich selbst als Jäger und Sammler, um Grundfragen der Ernährung authentisch und profund auszuleuchten.

 

 

 

Mais – Treibstoff industrieller Produktion

 

Der erste Teil führt den Leser ins geographische Zentrum der USA, dorthin wo die „Erfolgsgeschichte“ der Kulturpflanze Mais den Boden für Reichtum und Elend der Fleisch verzehrenden Wohlstandsbürger gelegt hat. Das System erläutert und entlarvt Pollan – das ist das Erfolgsrezept seiner Ausführungen – jeweils an konkreten Beispielen: George Naylor, ein typischer Farmer im Bundesstaat Iowa, ernährt mit dem von ihm angebauten Hybrid-Mais 34H31 der Firma Pioneer Hi Bred International 129 Esser, und er produziert davon bis zu 200 Scheffel pro Morgen, in etwa die dreifache Menge des Ertrags, der auf gleicher Fläche in den 1950er-Jahren erzielt wurde. Und Naylor geht diesem Geschäft mit großem Eifer nach, obwohl er von den Großhändlern nur rund 1,45 $ für einen Scheffel Mais bekommt, aber 2,50 $ an Ausgaben hat. Dennoch wird der Ertrag kontinuierlich gesteigert, denn nur wer über Bares verfügt, kann versuchen, seine Schulden zu tilgen. Die Geschichte von George Naylor gibt Polland jede Menge an Argumenten zur Hand, um über die „perverse Ökonomie der Landwirtschaft“ zu schreiben, „die sich dem klassischen Gesetzen von Angebot und Nachfrage entzieht“ (S. 75). Wer den Aberwitz industrieller Landwirtschaft verstehen möchte, sollte sich diese Seiten nicht entgehen lassen.

 

 

 

Das Elend tierischer Verstädterung

 

Doch damit nicht genug. 3/5 des produzierten Rohstoffs Mais landen in der Masttierproduktion, bspw. in Finny County, Westkansas, wo zig Tausende Tiere auf engstem Raum in sogenannten „Feedlots“ gehalten werden, die Kilometer um Kilometer aneinander gereiht, das Ausmaß von Städten annehmen. In diesen Containern stehen die Tiere in ihrem eignen Kot, werden gemästet und systematisch zu Tode gebracht. Das Elend, der Gestank und die Perversität industrieller Tierproduktion, die Rinder mit Mais(schrott) mästet, den diese als Wiederkäuer nicht vertragen, und daher trotz medikamentöser Behandlung kaum mehr als 150 Tage überleben, soll hier nicht näher beschrieben werden. Pollan aber macht deutlich, wie sehr die industrielle Nahrungsmittelproduktion „rationalisiert“, auf Gewinn und Verlässlichkeit ausgerichtet ist und mittlerweile alle größeren Wirtschaftsbereiche mitfüttert. „In einem industriellen Wirtschaftssystem unterstützt der Anbau von Getreide die größeren Wirtschaftszweige: die chemische und die Biotechindustrie, die Erdölindustrie, Detroit, Pharmaka, das Agrobusiness und die Handelsbilanz. Der Anbau von Mais hilft, eben den industriellen Komplex anzutreiben, der ihn antreibt.“ (S. 283).

 

Wie gelingt es, trotz „unelastischer Nachfrage“ – jeder Magen ist nun einmal nur begrenzt zu befüllen, und mehr als 700 Kilo kann selbst ein gesunder Mensch im Jahr kaum verkraften – den Konsum kontinuierlich zu steigern? Was treibt die BewohnerInnen der „Fettrepublik“ [USA] an, etwa 20% ihrer Mahlzeiten im Auto zu konsumieren und fast jede dritte Mahlzeit bei einer Fast-Food-Kette einzunehmen? Was sind die Hintergründe der uns so merkwürdig erscheinenden Alkohol-Restriktion? Darauf und auf vieles mehr weiß Pollan erhellende Antworten zu geben.

 

 

 

Selbstversorgung oder Big Bio?

 

Ebenso ausführlich und kenntnisreich widmet sich der Autor in Teil 2 den vielen Facetten einer grasbasierten naturnahen Landwirtschaft, erzählt beispielhaft von den Lebens- und Arbeitsbedingungen von Tieren und Menschen auf dem Betrieb eines Regionalversorgers in Virginia sowie von den Strukturen des „Big Bio“, wie es beispielsweise in Kalifornien praktiziert wird.

 

Der dritte Abschnitt schließlich rückt das Abenteuer der Selbsterfahrung als Jäger und Sammler in den Mittelpunkt und diskutiert kulturelle und ethisch-moralische Aspekte der (amerikanischen) Nahrungs- und Esskultur, die vielfach ja auch die unseren sind. So denkt Pollan über die Paradoxien von Wunsch und Wirklichkeit nach. Seine Landsleute bezeichnet er „als auffallend ungesundes Volk, das von der Idee besessen ist, gesund zu essen“ (S. 13), sich aber zugleich darüber ereifern kann, dass es der französischen Bevölkerung ganz offensichtlich wesentlich besser gelingt, „trotz regelmäßigen Wein- und maßlosen Käsekonsums niedrigere Herzkrankheit- und Fettleibigkeitsraten aufzuweisen“ (S. 421).

 

Differenziert und wohltuend sachlich diskutiert Pollan schließlich auch die für viele zentrale Frage, ob wir Tiere töten und diese auch verzehren dürfen. Ja, sagt Pollan, und argumentiert, dass „die Welt voller Gegenden ist, in denen die beste, wenn nicht gar die einzige Möglichkeit, aus dem Land Nahrung herausholen, darin besteht, darauf Tiere weiden zu lassen (respektive zu jagen) – vorzugsweise Wiederkäuer, da ja nur sie Gras in Protein umwandeln können“ (S. 458). Zudem und grundsätzlich sei zu fragen, „ob das Individuum die entscheidende moralische Entität in der Natur ist, so wie das unserem Beschluss nach in der menschlichen Gesellschaft sein sollte. Vielleicht“, so Pollan weiter, „brauchen wir einfach nur eine andersgeartete Ethik zur Orientierung unseres Umgangs mit der natürlichen Welt, eine, die zu den speziellen Bedürfnissen von Pflanzen und Tieren und Habitaten (in denen Empfindung nicht viel gilt) genauso gut passt, wie heute Rechte zu uns passen und unseren Zwecken zu dienen scheinen.“ (S. 456)

 

Dass der Autor sich zudem als gleichermaßen ausgezeichneter Koch und Gastgeber erweist, lässt er mit viel Geschmack und Lebensfreude zu Ende jedes Kapitels erkennen. Mit Michael Pollan am gedeckten Tisch zu sitzen, das muss das reine Vergnügen sein!

 

Wer sich umfassend mit all dem auseinander setzen will, was Nahrung und Ernährung heute bedeutet, und dabei noch –  über weite Strecken –  gut unterhalten sein möchte, dem sei dieses Buch dringend empfohlen. W. Sp.

 

Pollan, Michael: Das Omnivoren-Dilemma. Wie sich die Industrie der Lebensmittel ermächtigte und warum Essen so kompliziert wurde. München: Arkana-Verl., 2011. 607 S., € 14,99 [D], 15,50 [A], sFr 26,23 ; ISBN 978-3-442-21933-9