Je heikler die Fragen nach dem "Darf man?" werden, um so bereitwilliger überläßt das Publikum die Entscheidung den Politikern. Diese flüchten sich zu den Fachleuten, die in dieser Angelegenheit Kompetenz nur vortäuschen. Wenn es nämlich um die "Frage der Zumutbarkeit geht, sind ja nicht jene kompetent, die den anderen etwas zumuten, sondern die, denen etwas zugemutet wird - Risiken für Leib und Leben oder schmerzliche Verletzung ethischer Überzeugungen".
Auch der Versuch, Grundsatzfragen zivilisatorischen Handelns in dieser Welt aus dem Geist des Schöpfungsglaubens, des Kreuzestodes und der Erlösungshoffnung heraus zu beantworten, trägt nach Ansicht Dahls wenig zur Klärung bei. Am Beispiel Abtreibung, extrakorporale Befruchtung und Atomenergie wird die Widersprüchlichkeit der Argumentation deutlich, wenn zum einen mit Donnerstimme von der Kanzel Protest formuliert wird, dann wieder Stellungnahmen ausbleiben. Im Fall der Atomenergie ist einerseits Ablehnung des „Teufelswerks" zu vernehmen und andererseits zu hören, daß "wenn Gott dem Menschen die Fähigkeit zur Atomkernspaltung verliehen habe, dann werde es damit schon seine Ordnung haben, weil es ja nicht sein könne, daß Gott etwas zuläßt, was dem Menschen eigentlich nicht ,gebührt". Diese Rechtfertigung gleicht der wissenschaftlichen, materialistischen Denkart, wonach es sich bei allem Menschenwerk um unabwendbare Naturereignisse handelt.
Die ins Vakuum christlichen Glaubens vorgestoßenen religiös-esoterischen Gruppen bedienen sich ähnlicher Argumente. Nichteingeweihten ist der Zutritt verboten, sie sind deshalb auch nicht kompetent. Dahl skizziert dann die Gruppe der Skeptiker (Agnostiker), die sich auf keine Glaubenswahrheit, Institution, Offenbarung oder Erleuchtung' berufen. Der Agnostiker konstatiert "die unermeßliche und umfassende Größe des Unbegreiflichen, und sie ist ihm nicht ,Gott', sondern ein Faktum, mit dem er mehr seine eigene Unvollkommenheit beschreibt als etwas außerhalb von ihm Liegendes". Einzige Gewißheit ist für den Agnostiker, daß Gewißheit nicht zu erlangen ist und ihre Vielzahl Verwirrung stiftet. Die Ungewißheit und Fraglichkeit alles Bestehenden ist weder zynisches Gehenlassen noch eine opportunistische Beliebigkeit, "wohl aber die anstrengende Freiheit, allein aus dem wechselseitig zugestandenen Lebensrecht alle Haltungen, Vorschläge und Forderungen - begreiflich zu machen". Beim Umgang mit allem Unbegreiflichen wird der Agnostiker im Eingeständnis seines Nicht-Wissens äußerste Vorsicht und Rücksicht walten lassen. Deshalb wird er beispielsweise die extrakorporale Befruchtung von Embryonen ablehnen, "weil es sich um die willentliche Herbeiführung einer Nötigung zur Verletzung des wechselseitig zugestandenen Lebensrechtes handelt". In Anbetracht dringend notwendiger Entscheidungen könnte es nach Meinung Dahls sein, daß neues Bewußtsein mit der Akzeptanz der Unbegreiflichkeit beginnt.
Dieser Aufsatz wurde exemplarisch aus der „Jahresschrift für skeptisches Denken - Scheidewege" ausgewählt. Die Vielfalt der möglichen Themen in diesem Periodikum zeigt sich auch in einer ebensolchen der Form. Autoren wie Chargaff, Altner, Meyer-Abich, Kostowski, Illich, Schumacher oder Kohr bringen Einwände und Einsichten, keine Gebrauchsanweisungen.
Dahl, Jürgen: Eine Laienpredigt über die Unbegreiflichkeit. In: Scheidewege. Jahresschrift für skeptisches Denken. 17. Jg. (1987/88). S.49-59.