Amery zu Leben, Tod und Würde

Ausgabe: 1994 | 4

Also auf - und über den Grenzstrich" - so der Leitspruch in Carl Amerys neuem Buch, das wider die "Ablassmärkte der Politik" und die "Panflötenquartette des New-Age-Konzerts" einer politischen wie spirituellen Ökologie das Wort redet. Zwei Hauptgefahren macht der Schriftsteller und Ökologe aus: den "maßlosen Energie- und Schadstoffausstoß der Metropol-Regionen" sowie die "gewaltige Vermehrung der Bevölkerung vor allem in den ärmeren Erdteilen".

Die mit scharfer Zunge vorgetragene Kritik an der aktuellen ökologischen "Flickschusterei" - der Katalysator als "deutscher Herzensfreund" ist hierfür nicht der einzige Beleg, den Amery anführt -, sowie manche der Vorschläge, etwa Einführung eines Ökosteuersystems und Umstieg auf erneuerbare Energien, bewegen sich im bereits Bekannten (auch wenn dieses nicht oft genug wiederholt werden kann). Doch wo ist das Neue, das "über den Grenzstrich" reicht? Es ist zu finden in Amerys Sicht einer „Deep Ecology", der Wahrnehmung der Gattungsgeschichte des Menschen als Eingebettet-Sein in die Naturgeschichte, die den Menschen allein dadurch auszeichne, dass er um dieses Eingebettet-Sein weiß: "Der Mensch ist nur die Krone der Schöpfung, weil er weiß, dass er es nicht ist." Im Nationalsozialismus sieht Amery den barbarischen Versuch, die Gattungsfrage durch das Überleben einer Herrenrasse in einer als begrenzt erkannten Welt zu lösen.

Hitler wurde besiegt, die Gattungsfrage als Frage nach einem Leben in Würde jedoch nicht beantwortet, so die provokante These des Autors in seinem "Deutungsversuch über das 20. Jahrhundert". Der nach „Verstetigung und Vermehrung des Menschen" trachtenden Entwicklungsideologie der letzten zwei Jahrhunderte setzt Amery das Leben-Tod-Prinzip der Natur entgegen, das Ausgewogenheit und tragfähige Entwicklungen ermögliche. Überzeugt, dass unser Kulturentwurf nicht mehr lange haltbar sei, fordert der Ökophilosoph eine "Vielfalt künftiger Kulturen der Nachhaltigkeit". Sie zu erreichen bedürfe es aber des "überwölbenden Daches einer gemeinsamen Religiosität", die sich dem GAIA-Prinzip (der Mensch als Teil der Natur) verbunden fühlt und den Tod "als Verkehrsform des Lebens" anerkennt.

So berechtigt Amerys Warnungen vor einer möglichen Ökodiktatur (mit Hitlers Antwort auf die Gattungsfrage im Hinterkopf) und seine Kritik am gegenwärtigen "planet managing" sind; wenn er im Zusammenhang mit der Bevölkerungsproblematik auf die "apokalyptischen Reiter" Hunger und Pest früherer Jahrhunderte verweist, rührt er nicht nur an einem in unserer Kultur in der Tat verdrängten Phänomen, nämlich dem des Todes, er begibt sich auch in gefährliches Terrain des Biologismus bzw. Neomalthusianismus, der vor Mißbrauch gerade durch jene, denen vorgebeugt werden soll, nicht zu schützen vermag. So bleibt die Frage, ob Amerys dritte Kategorie, nämlich die Würde, die der derzeitige Weltzustand nur wenigen zuteil werden lässt, nicht auch durch Theorien des "natürlichen Gleichgewichts" verletzt werden kann.

H. H.

Amery Carl: Die Botschaft des Jahrtausends. Von Leben, Tod und Würde. München (u. e.): List, 1994. 178 S., DM 34,-/ sFr 31,30/ ÖS 265