Österreich ist ein Land, so der Publizist und „Falter“-Herausgeber Armin Thurnher, in dem sich die Probleme der Welt brennpunktartig wiederfinden. „Der Aufstieg der extremen Rechten, der hausgemachten gewinnenden Faschisten, verläuft in keinem europäischen Land so nachhaltig, so ausdauernd, so bizarr und scheinbar unaufhaltsam wie hier.“ (S. 8f.) Aber der Autor verbreitet nicht nur Weltuntergangsstimmung. Witzig, ernst und zum Teil ironisch zeigt er mit dem Finger auf Wunden des an sich noch gesunden Körpers, genannt Österreich: Zweiklassenmedizin, zerstörte Universitäten, privilegierte Eliten, die sich weit öffnende Einkommensschere. Zornig erinnert Thurnher daran, dass in Österreich bei der ersten Bundespräsidenten-Stichwahl beinahe fünfzig Prozent den Kandidaten der FPÖ gewählt hat. Österreich gilt dem Autor „als kleines Muster des großen Nachbarn Deutschland“ (S. 9), in dem der eigene Blick durch Selbstimmunisierung getrübt sei, was ihn veranlasst, sich mit der Dialektik von Fremd- und Selbstwahrnehmung zu beschäftigen. Gekonnt räsoniert er auch über die Begriffe Vereinigungen und Spaltungen. „Dass Spaltungen in einem Zeitalter der Vereinigung, des Zusammenwachsens der Welt, der übernationalen Verbände zu einer Einheit mit einer Weltregierung oder einem Weltverband besonders auffallen, versteht sich.“ (S. 13)
Über die Europäische Union verliert Thurnher kaum ein gutes Wort. Er kritisiert das Scheitern der supranationalen Exekutivdemokratie drastisch: „In der ostentativen Unterdrückung des griechischen Volkswillens und im Diktat eines Sparkurses wider jede ökonomische Vernunft funktionierte er; bei der Verteilung von Flüchtlingskontingenten versagt er.“ (S. 158) Seiner Ansicht nach werden die Migrationsbewegungen nicht abreißen und leider werden wir auch nicht in den Blick bekommen, „dass der Westen selbst teilweise die Ursachen schafft, mit deren Wirkungen er nicht fertig wird: Kriege und Bürgerkriege.“ (S. 159f.) Als das fatalste Ergebnis der Krise für Europa (und natürlich auch für Österreich) erachtet Thurnher, „dass menschenrechtliche Standards gegenüber egoistischen Interessen zurücktreten“ (S. 160). Nachvollziehbar arbeitet er einen Zusammenhang zwischen der Krise der EU und dem Nationalismus der Unzufriedenen mit dem drohenden Abstieg des Mittelstands und der Arbeiterklasse heraus. „Die EU kassiert die Rechnung für ihre politische Ausrichtung auf den gemeinsamen Markt und auf ein gemeinsames Finanzregime, das die Idee einer Sozialunion in den 1990er Jahren unter ihren Maastricht-Kriterien begrub.“ (S. 167) Was den Aufstieg rechter, autoritärer, nationalistischer Bewegungen und Regimes betrifft, erinnert Thurnher an unsere Situation – unter anderen kommunikativen Voraussetzungen, ohne Massenelend im Westen – in den 1920er und 1930er Jahren.
Was wäre zu tun? Nach dem Ende der Erfolgsgeschichte des neoliberalen Modells braucht es Ideen. Eine findet Thurnher in der Gemeinwohlökonomie Christian Felbers. Ein weiteres Modell wäre die österreichische Sozialpartnerschaft, die aktualisiert werden könnte. So könnte ein institutionalisierter, kompromissbereiter Dialog zwischen Arbeit und Kapital, zwischen Schuldnern und Gläubigern auf europäischer Ebene mit mehr Öffentlichkeit Platz finden. Höchst an der Zeit wäre es auch, Steuerschlupflöcher ein für allemal zu schließen, den Wachstumszwang auszusetzen und zu versuchen, Märkte wieder sozial zu ordnen (S. 169f.). Zur Weltrettung braucht es nach Meinung Thurnhers nicht viel: die Entmachtung des neoliberalen Denkkollektivs, eine Wiedereinführung der Universität im Sinne Wilhelm v. Humboldts, die Neuerfindung von Sozialismus und Kapitalismus, die Neuordnung von Interessenvertretungen, ein öffentlich-rechtliches Internet, eine gerechte Besteuerung der US-Medienkonzerne, ganz andere Schulen und die Rekonstruktion der Öffentlichkeit. Diese Aufzählung klingt einfach, ist es aber nicht. Europa könnte aber von diesen „Lektionen aus der Alpenrepublik“ durchaus Anregungen für Reformvorhaben entnehmen. Vergnüglich zu lesen sind sie allemal. Alfred Auer
Thurnher, Armin: Ach, Österreich! Europäische Lektionen aus der Alpenrepublik. Wien: Zsolnay, 2016. 170 S., € 16,- [D], 16,50 [A] ; ISBN 978-3-552-05830-9