Zeitgeistwandel, schon wieder? – Ja, unbedingt!

Ausgabe: 2015 | 2

Zugegeben: der erste Blick auf dieses Buch erfüllte mich mit Skepsis. Haben wir nicht schon zu oft vom unabdingbaren Ende der Neuzeit, vom Aufbruch in ein neues Zeitalter, von einer zweiten Aufklärung und von einer neuen Sicht auf das Raumschiff Erde gelesen? Ist also einmal mehr damit zu rechnen, an dieser Stelle nur auf Altbekanntes zu stoßen?

Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass Friedhelm Bütow in verschiedenen geisteswissenschaftlichen Disziplinen (Musik, Geschichte, Philosophie u. a. m.) überaus kundig ist, bereits einiges publiziert hat und (mit Blick auf die zu Rate gezogene Literatur) ein Generalist im besten Sinne genannt werden kann. Der Autor (Jahrgang 1940) hat die hier versammelten Essays, so ist dem Vorwort zu entnehmen, „vom Beginn des Zeitalters der astronautischen >Welt-Anschauung< [1969] bis zum Ende des Jahres 2014“ verfasst. Anzunehmen wäre demnach, dass unterschiedliche Aspekte der Zeit- und Raumbetrachtung eher unvermittelt aneinandergereiht wurden. Die auf knapp 600 Seiten dargelegten Gedanken sind jedoch – von wenigen Wiederholungen abgesehen – chronologisch schlüssig und ideengeschichtlich klar strukturiert. Ergebnis ist eine vielfältige, zum Teil auch spannende Darstellung des ‘Zeitgeistes’ vom späten Mittelalter bis zur Gegenwart.

Ausführlich auf Lebensweg und Bedeutung Giordano Brunos eingehend, schildert Bütow zunächst die Entstehung des „Neuzeitgeistes“, der, ausgehend von der Renaissance, s. E. von drei ‘Euphorien’ geprägt wurde: jener nach Weite, nach Neuheit und nach Fortschritt. Im Verlauf der [ersten] Aufklärung mit hinzugekommen sei die Geschwindigkeitseuphorie. Geprägt wurde diese mentale Neuordnung der Welt vor allem durch technologische Neuerungen (die Erfindung der Uhr, die„Eroberung der Lüfte“), die industrielle Revolution, sowie diese begleitende soziologische Umbrüche (Selbstermächtigung des Bürgertums, Arbeiter-, Frauen- und Jugendbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts).

Von der Weltanschauung zur Welt-Anschauung

Dreh- und Angelpunkt der Zeit- bzw. Weltbetrachtung des Autors ist das Jahr 1969 – für ihn der Beginn des „planetarischen Zeitalters“. Durch die damit erstmals erfahrene Außenperspektive sei die Erde 1.) in ihrer Ganzheit, 2.) in ihren Grenzen, 3.) in ihrer Vielfalt und ihrem Reichtum sowie 4.) in ihrer Einzigartigkeit erfahrbar geworden. Der Perspektivenwechsel sei für Individuum und Gemeinschaft, für unseren Blick auf Natur und Kultur eine Herausforderung, ja, komme einer Revolution gleich: Notwendig sei die Entwicklung einer auf vier Prinzipien (Tugend, Herzens[bildung], Dienst-/Pflicht und Ehr- furcht) gründenden Ethik. Daraus abzuleiten und vorrangig – [mit Blick auf die gegenwärtige Welt-Unordnung auch nur in Ansätzen kaum zu erkennen, W. Sp.] – sei eine Neuordnung der Menschenrechte, die Entwicklung einer tragfähigen Weltwirtschaftsordnung sowie eine an den Prinzipien der Nachhaltigkeit ausgerichtete Entwicklung von Technik und Wissenschaft. Naheliegend, dass in diesem Kontext dem Durchbruch erneuerbarer Energien und dem Erstarken zivilgesellschaftlichen Engagements besondere Bedeutung beigemessen wird.

Fünf Treiber des (neuen) Wandels

Fünf „Zeitgeisteuphorien“, denen der Autor „Ermutigungs- und Ansteckungspotenzial“ zuschreibt, würden die Entwicklung des planetarischen Zeitalters kennzeichnen: 1.) Die Faszination für Großtechnik und Geschwindigkeit verliert gegenüber dem „Charme der Kreativität, der Intelligenz und der Subversivität ‘des Kleinen’ an Bedeutung; 2.) Der Aufbruch in eine solare Weltwirtschaft, die eine Energieautonomie für alle Menschen möglich macht, lässt „die alten Energiekonzerne als Zwerge erscheinen“; 3.) In der Genese einer sozialen Ethik in der Wissenschaft und in einer Tendenz zu „ökologischer Sesshaftigkeit“ seien Prinzipien einer „planetarischen Solidarität“ zunehmend erkennbar; 4.) Auszumachen sei das Erstarken einer „subversiv-konstruktiven Macht der Kultur, die eine „defizient gewordene Neuzeit“ unterminiert und so „die Wege ins Solarzeitalter öffnet, fördert und begleitet“; 5.) Wachsende Umweltaktivitäten in vielen Ländern, die von vielen Pionieren getragen werden, würden schließlich die Zuversicht, nach Bütow die „alltagstaugliche Dauerform der Euphorie“, stärken [Vgl. S. 519ff.]

Wie uns der Autor berichtete, wurde der Titel von den Initiatoren der Ausstellung „Willkommen im Anthropozän“ (am Deutschen Museum in München noch zu sehen bis Jänner 2016) mit Wohlwollen und Interesse aufgenommen. Das ist nachvollziehbar. Bleibt zu wünschen, dass die hier zum Ausdruck gebrachten Erwartungen sich als substanziell und tatsächlich zukunftsprägend erweisen. Walter Spielmann

 

 Bütow, Friedhelm: Zeitgeistwandel: vom Aufbruch der Neuzeit zum Aufbruch ins planetarische Zeitalter oder Von der Flächenorientierung zur Raumperspektive. Essays. Norderstedt: Books on Demand, 2014. 594 S., € 41,20 [D], 42,40 [A] ; ISBN 978-3-734-74107-4