Wir! Warum Ichlinge keine Zukunft mehr haben

Ausgabe: 2010 | 4

In Zeiten, da die Versprechen auf permanentes Wachstum fragwürdiger, die Verlockungen der Wohlstandsmehrung schaler und die Kollateralschäden kollektiver wie auch individueller Profitmaximierung immer deutlicher werden, mehren sich die Anzeichen für die Möglichkeit eines weitreichenden Paradigmenwechsels. Der Wandel vom „Ich“ zum „Wir“, vom materiellen zum sozialen Wohlstand ist, wie Horst W. Opaschowski in seinem jüngsten Buch ausführt, in vollem Gang und verweist auf die Möglichkeit eines grundlegenden kulturellen Wandels. Walter Spielmann stellt das neue Buch des prominenten Zukunftsdenkers vor. Heidi Reiter, über viele Jahre Mitglied der Grünen in Salzburg, hat sich die Ein- und Ansichten des EU-Parlamentariers Johannes Voggenhuber näher angesehen. Auch hier zeigt sich: Die Zukunft gehört der Wiederentdeckung des Politischen!

 

 

 

Ichlinge oder neues „Wir“!

 

Horst W. Opaschowski hat es als Leiter der „Stiftung Zukunftsfragen“ in Hamburg, die auf eine Initiative von British-American Tobacco zurückgeht, wie kaum ein anderer verstanden, Deutschlands Zukunft gleichermaßen fundiert wie anschaulich in den Blick zu nehmen und breitenwirksam zu vermitteln. Zwischen Skylla und Charybdis – trendig gefälligem Zukunftsoptimismus und normativ verdüsterter Skepsis gegenüber den Potenzialen des Kommenden – hat der promovierte Erziehungswissenschaftler mit ausgeprägtem Sinn für die Analyse des Vor-uns-Liegenden über mehr als 40 Jahre stets einen sicheren und überzeugenden Kurs gesteuert, der ihm national wie international Aufmerksamkeit und Anerkennung eingebracht hat.

 

Mit dem hier angezeigten Titel zieht Opaschowski Bilanz, indem er – erstmals, soweit ich sehe – auch sehr persönliche Aspekte seines Lebensweges mit in das Thema einwebt und dabei die Zukunft (keineswegs nur) Deutschlands in einem sehr freundlichen Licht erscheinen lässt. Der Autor – er charakterisiert sich einleitend als „realistischen Optimisten und Ideenproduzenten mit Bodenhaftung“ und als „Visionär mit Verantwortung“ (S. 9), dessen Befunde auf „49 Prozent fundierter Zahlenkenntnis und 51 Prozent lebendiger Vorstellungskraft“ (S. 11) fußen – verkündet nicht weniger als das „Ende der Ichlinge“ und liefert tatsächlich eine Fülle von Indizien dafür, dass das materiell orientierte, egoistische, übersättigte Selbst als Auslaufmodell angesehen werden kann.

 

Der Wertewandel vom Ich zum Wir, vom materiellen zum sozialen Wohlstand sei voll im Gang, ist der Autor überzeugt. So sagen nicht weniger als 88 Prozent der Bundesbürger, dass „für Egoismus in der Gesellschaft immer weniger Platz ist“ und geben an, dass „sie den Zusammenhalt suchen“ (S. 19). Verantwortung, Leistungsbereitschaft und Optimismus sind vor allem für junge Menschen wesentlich und die Voraussetzung dafür, „das Beste aus ihrem Leben zu machen“. Nicht weniger als 87 Prozent der 14 bis 34-Jährigen blicken optimistisch in die Zukunft (S. 29). An die Stelle des „Ego-Kults“ tritt, jenseits von Pflichtgefühl und Helferpathos, einer neuer Typus von pragmatischer Solidarität, verstanden als Hilfsbereitschaft auf Gegenseitigkeit (56 Prozent der Bevölkerung sind bereit, sich freiwillig sozial zu engagieren und zu helfen, wenn auch ihnen geholfen wird“ [S. 44]). Diagnostiziert wird nicht nur die Renaissance der „guten alten Sitten“ (wie Rücksichtnahme, Toleranz und Kollegialität); auch die Familie hat – allen pessimistischen Szenarien zum Trotz – einen weiter wachsenden Stellenwert (für 90 Prozent der Bevölkerung „ist und bleibt sie das Wichtigste im Leben“, S. 59). Dabei ändert sie freilich ihren Charakter: Zum einen wird „die Zweisamkeit auf eine immer härtere Probe gestellt“ (S. 67), zum anderen wird die innere Nähe durch äußere Distanz erst gewährleistet (gehört doch die Großfamilie längst der Vergangenheit an). An Bedeutung gewinnt die Bereitschaft zu freiwilligen Bindungen: Freunde und „soziale Konvois“, die das Zusammensein und Zusammenwohnen in Selbstbestimmung möglich machen, werden vor allem dann zu „lebenslangen Wegbegleitern“, wenn sie generationenübergreifend angelegt sind. Der Trend zu „multilokalen Generationenbeziehungen“ und zum „Mehrgenerationenwohnen“, so Opaschowski, werde nicht zuletzt „zur großen Herausforderung für die Wohnungspolitik“ (S. 79). Auch das „Comeback des guten Nachbarn“ als Indiz des Wandels von der Isolation zur Kommunikation macht deutlich: Wir sind Zeugen und Gestalter einer neuen „Selbsthilfekultur“, in der die BürgerInnen ihre Sinnorientierung selbst finden, auch wenn sie erwarten, dass dafür auch vonseiten des Staates und der Kommunen Akzente gesetzt werden. Zur Aktivierung von Bürgerbeteiligung im Wohnquartier plädiert Opaschowski etwa für die Einrichtung von „Helferbörsen“ und präsentiert einen Leistungskatalog, der unterschiedliche Angebote (vom Ausfüllen eines Formulars über Gartenarbeit bis zu gemeinsamer Freizeitgestaltung) nach einem Punktesystem bewertet. „Schafft die Altersheime ab!“, lautet eine weitere pointierte Forderung des Autors, der dem vielfach angekündigten „Krieg der Generationen“ ebenso wie der zunehmenden Pflegebedürftigkeit der Alten eine Absage erteilt. Eine gelungene private Lebensökonomie, so der Autor, sei von vier Säulen getragen: materieller, physischer, sozialer und mentaler Vorsorge. In Zukunft würden, so weitere zentrale Aussagen, Erwerbsarbeit und Fürsorgearbeit eine gleichberechtigte Rolle spielen, an die Stelle des Wohnungskaufs vermehrt die „Lebensstilmiete“ treten und die Strukturen der (Erwerbs)Arbeit weiter verändert. „Die Zukunftsformel ‚Arbeit für alle’ werde um den Aspekt ‚Leistung von allen’ erweitert (S. 110). Dies bedeute aber auch, dass jede und jeder gefordert ist, mehr Eigenverantwortung zu übernehmen: „Aus dem traditionellen Arbeitnehmer wird ein Bürger im Betrieb mit Bürgerrechten und Bürgerverantwortung.“ (S. 161).

 

Für die Zukunft, so der Autor pointiert, zeichne sich „eine ‚zweite Ökonomie’ des Unentgeltlichen’ ab. Der Wohlstand einer Gesellschaft lässt sich dann nicht mehr nur in Geld messen“ (S. 166). Die apostrophierte Kultur der Gemeinschaft auf Gegenseitigkeit könne freilich nur unter entsprechenden Rahmenbedingungen wachsen. Die „Hilfeleistungsgesellschaft“ bedürfe einer Politik, die freiwilliges Engagement etwa durch steuerliche Anreize fördert und einer Wirtschaft, die soziale und kulturelle Aktivitäten stärkt. Das Zusammenleben der Zukunft sieht Opaschowski als Ineinandergreifen von Sozial-, Generationen- und Hilfeleistungsgesellschaft (S. 177), die von der Maxime „Gut leben statt viel haben“ geprägt ist. Dieser Wertewandel verändere auch die Strukturen des Politischen, „weg von Parteien, hin zu freien Wählergruppen und Bürgerinitiativen“ (S. 192), ist Opaschowski überzeugt und formuliert zusammenfassend: „Die Zukunft gehört dem starken Ich und dem wieder entdeckten Wir“ (S. 200). Er räumt aber auch ein, „dass die neue Solidargesellschaft die Probe auf die Menschlichkeit erst noch bestehen muss, indem sie auch die zu ihrem Recht kommen lässt, die es selbst nicht fordern können.“ (S. 199) Die damit einhergehende Forderung nach Gerechtigkeit bedeute, „dass die Verteilung von Gütern und Lasten nicht einseitig und maßlos verfolgt und es das Privileg und die Pflicht der Starken ist, andere Maßstäbe als die des eigenen Vorteils anzulegen“ (S. 198).

 

Ob die mit beinahe trotziger Zuversicht entworfene „Periode der Erneuerung“ tatsächlich „aus der Gesellschaft der Ichlinge eine Gemeinschaft auf Gegenseitigkeit“ (S. 205) wird entstehen lassen, ist freilich nicht gewiss. Moderne Gesellschaften dürften –  so könnte ein schwer zu widerlegender Einwand lauten – stärker differenziert und daher auch weiter von moralischen und weltanschaulichen Gegensätzen geprägt sein, als es dem Autor wohl lieb ist. Dass der hier so eindrücklich beschriebene „Weg zum Wir“ jedoch von immer mehr Menschen als sinnvoll erachtet und aktiv beschritten wird, sei damit nicht in Abrede gestellt. W. Sp.

 

Opaschowski, Horst W.: Wir! Warum Ichlinge keine Zukunft mehr haben. Hamburg: Murmann, 2010. 221 S. € 19,90 [D], 20,50 [A], sFr 34,80

 

ISBN 978-3-86774-104-0