Wachstumsrücknahme

Ausgabe: 2015 | 3
Wachstumsrücknahme

image012Der „Ökonomie des guten Lebens“ sehr nahe kommt das Konzept einer „Wachstumsrücknahme“ bzw. einer „Aufwärtsspirale der Wachstumswende“, die Serge Latouche in „Es reicht!“ entwirft. Der Analytiker der „Decroissance“-Bewegung in Frankreich skizziert das Bild einer Gesellschaft, in der das soziale Miteinander  und Tätig-Sein bei gleichzeitiger Reduzierung des Warenkonsums im Mittelpunkt steht. Marktbeziehungen seien damit nicht obsolet, würden aber eingebettet in Sozialstrukturen der Kooperation und Muße. Die Grundthese des Autors: Die ökologisch gebotene Wachstumswende erfordert die drastische Reduktion der materiellen Durchsätze, nicht weniger aber ein kulturelles Umdenken. Drei der von Latouche ausgeführten „großen R“ – „Reevaluierung“, „Rekonzeptualisierung“ und „Restrukturierung“ beziehen sich auf neue Werte und Bewertungen  einschließlich eines anderen Zugangs zur Natur: „Nicht mehr wie Raubtiere leben, sondern wie Gärtner.“ (S. 60) Von den vier weiteren „R“ – „Redistribution“ (Neu-Verteilung von Arbeit und Einkommen), „Reduktion“ (Abkehr von der Warenanhäufung), „Recycling“ (langlebige und wiederverwertbare Güter) und „Relokalisierung“ – hofft der Autor insbesondere auf letzteres. Bewegungen für  Ernährungssouveränität und eine lokale Energieversorgung, die Wieder-Entdeckung regionaler Identitäten und Besonderheiten sowie die Rückkehr zu regionalen Güterkreisläufen seien dabei richtungsweisend: „Ideen sollten Grenzen frei überwinden, aber der Transport von Waren und Kapital muss auf das Notwendigste beschränkt werden.“ (S. 63)

Latouche zitiert viele Vordenker und Vordenkerinnen für sein Konzept von „Degrowth“ sowie neue Initiativen insbesondere aus Frankreich und Italien und formt daraus ein attraktives alternatives Lebens- und Wirtschaftsmodell. Nicht weniger wichtig sind jedoch die Reflexionen des Autors über Wege und Wahrscheinlichkeiten der dargelegten Transformationsprozesse. Im abschließenden Teil stellt sich der Autor daher Fragen, wie die Veränderungen politisch anzugehen wären (vom Arbeitsmarkt bis hin zu neuen grünen Technologien), ob hierfür eine eigene Partei zu gründen sei (Latouche rät vorerst davon ab), wie man sich von der „Anti-Moderne“ der Rechten abgrenzen könne und müsse -  und vor allem, ob eine Wachstumswende im Kapitalismus überhaupt möglich sei.

Aufkündigung des Konsumdenkens

Latouche antwortet darauf salomonisch. Die Politik werde immer mehr ihrer Substanz beraubt („Alle Regierungen sind, ob sie es wollen oder nicht, ´Funktionäre´ des Kapitals“ S. 108), und dennoch sei es wichtig, politische Reformen (von Umwelt- und Vermögenssteuern über Arbeitszeitverkürzungen und Mindestlöhne bis hin zu hohen Werbekostenabgaben) einzufordern. Die Wachstumswende ist für den Autor mit dem Kapitalismus zwar unvereinbar, doch sei das Engagement nicht mehr auf den Kampf gegen Konzerne und Vermögende zu beschränken, sondern auf den Konsumismus auszuweiten. Die „Revolution“ sei nicht mehr mit gewalttätiger Enteignung der Besitzenden einzuleiten. Vielmehr gehe es darum, durch viele kleine Schritte sowie den Neu-Aufbau lokaler Versorgungsstrukturen dem Kapitalismus sozusagen den Boden zu entziehen. Dazu gehöre eben auch die Aufkündigung des Konsumdenkens als Komplizenschaft des gegenwärtig dominierenden Wirtschaftssystems. Einrichtungen wie Geld, Märkte, Privatbesitz oder Lohn würden ihre Funktion behalten, jedoch in demokratisch vereinbarte Schranken verwiesen.

Wie realistisch ist diese Strategie? „Die global vernetzte Konsumentenklasse dominiert in Europa bereits jetzt und anderswo absehbar jeden parlamentarisch-demokratischen Prozess“, so schreibt Niko Paech im Vorwort zur deutschen Ausgabe. Dies spreche jedoch keinesfalls dagegen, die Frage nach politischen Maßnahmen und Rahmenbedingungen für eine Wachstumsrücknahme „theoretisch plausibel zu beantworten“, wie dies Latouche exzellent gelingt – und sei es nur, so Paech weiter, „um politische Entscheidungsträger zu verunsichern oder ihnen das Alibi zu nehmen, von keiner Alternative gewusst zu haben“ (S. 11). „Es reicht!“ gilt in diesem Sinne als weiterer Beleg für die in der Literatur wie in ganz praktischen Projekten international an Bedeutung gewinnende Perspektive einer Postwachstumsökonomie.

Hans Holzinger

Latouche, Serge: Es reicht! Abrechnung mit dem Wachstumswahn. München: ökom, 2015.  201 S. € 14,95 [D], 15,40 [A] ISBN 978-86581-707-5

„Mehr als jemals zuvor werden im Namen der Wirtschaftsentwicklung die Bevölkerungen ganzer Länder und ihr konkretes, lokales Wohlergehen auf dem Altar eines abstrakten, an keinen Ort mehr gebundenen Wohlstands geopfert.“ (Latouche S. 55)