Hurra, wir dürfen Zahlen

Ausgabe: 2010 | 2

Es sollte in Anbetracht der bisher diskutierten Befunde nahe liegen, ja selbstverständlich sein, dass der Ruf nach mehr sozialer und materieller Gerechtigkeit Resonanz und breite Unterstützung findet. Das ist jedoch keineswegs der Fall, wie Ulrike Herrmann, Wirtschaftskorrespondentin der Berliner taz, in einem faktenreichen, flüssig zu lesenden und doch zugleich ernüchternden Buch zeigt. (Auch wenn die ausgewiesenen Daten sich fast ausschließlich auf Deutschland beziehen, so sind die Befunde im Wesentlichen für Österreich und grosso modo wohl auch für die Schweiz zutreffend.)

 

Die Mittelschicht, die bisher (und wohl bis auf Weiteres) den Löwenanteil der Finanzkrise zu tragen hat, unterliegt – so die zentrale These der Autorin – einem dreifachen Selbstbetrug: Erstens, indem sie nicht erkennt, wie ungleich Vermögen und Einkommen verteilt sind, da die Elite ihre Pfründe mit Raffinesse zu verschleiern weiß; zweitens, indem sie sich überwiegend selbst zu den potenziellen Gewinnern zählt und fälschlicherweise annimmt, mit nur etwas Glück und Anstrengung den Aufstieg zu schaffen; drittens schließlich, indem sie alles daransetzt, sich von der Unterschicht abzugrenzen, anstatt sich mit ihr zu verbünden und – legitimiert durch eine solide Mehrheit – für eine nachhaltige Umverteilung einzutreten.

 

Man könnte nun meinen, dass diese Positionen wenn nicht einer ideologisch eingefärbten, so doch zumindest einer sehr subjektiven Betrachtungsweise geschuldet sind. Allein, Ulrike Herrmann polemisiert nicht. Es gelingt ihr vielmehr, ihre These überzeugend zu belegen, auch indem sie sich ihrem Thema aus jeweils unterschiedlicher Perspektive nähert.

 

 

 

Die Tricks der Reichen

 

Reich ist nach Definition des Deutschen Instituts für Wirtschaftswirtschaftsforschung (DIW), wer mehr als 200 Prozent des Medianeinkommens verdient. (Im Jahr 2008 waren das 1482 € / Monat netto für Singles.) Dass die mutmaßlich mehr als 50 Milliardäre und deutlich mehr als 800.000 $-Millionäre (S. 25f.) in einer anderen Liga spielen, versteht sich dabei von selbst, denn für sie gilt u. a., dass sie nur 34 Prozent an Einkommensteuern zahlen, während der gesetzliche Steuersatz (im Jahr 2002) bei 48,5 Prozent lag (S. 76). Man versteht es sich also zu richten. Das gilt freilich nicht nur in finanzieller Hinsicht, denn wer viel hat und auf sich hält, der bleibt auch unter sich, wie Ulrike Herrmann mit einem gleichermaßen kenntnisreichen wie süffisanten Blick auf die Gepflogenheiten des Geld- und Blutadels zu berichten weiß. Dabei trägt die Partnerwahl zur Absicherung des Status quo ebenso bei wie die Wahl der richtigen (Privat)Schule für den behüteten Nachwuchs, was wenig überraschend auch die Auswahlkriterien der renommierten „Studienstiftung des deutschen Volkes“ unter Beweis stellen (vgl. S. 66). Dass der soziale Aufstieg BürgerInnen aus Ostdeutschland kaum gelingt, verwundert hingegen kaum.

 

 

 

Die Irrtümer der Mittelschicht

 

Zur Mittelschicht zählt das DIW BürgerInnen, denen 70 bis 150 Prozent des Median-Einkommens (das sind 1037 – 2223 € monatlich) zur Verfügung stehen (S. 39). Waren das im Jahr 2000 immerhin noch 49 Mio., so sind es im Jahr 2006 nur noch 44 Millionen BürgerInnen, während rund 1/4 der Bevölkerung inzwischen zur Unterschicht gezählt werden muss. Dass zudem die Nettolöhne in Deutschland zwischen 2006 und 2008 real im Durchschnitt um 1,5 Prozent gesunken sind – im gleichen Zeitraum verzeichnet Österreich + 2,7 und die Schweiz + 2,1 Prozent(S. 37) –, trägt mit dazu bei, dass sich inzwischen 26 Prozent der Mittelschicht „große Sorgen“ um ihre Zukunft machen. Wie das DIW konstatiert, ist das seit 1984 ein historischer Höchststand (S. 120). Das verwundert kaum, wenn man bedenkt, dass rund 1/5 aller Angestellten im Niedriglohnsektor beschäftigt sind und damit im Durchschnitt zwischen 6,88 (West) und 5,60 (Ost) € netto/pro Arbeitssunde „verdienen“ (S. 122). Nicht mehr als ein Ventil sieht die Autorin in Anbetracht dieser Entwicklung in der auch von den Medien geförderten Empörung über (freilich maßlos überhöhte) Managergehälter. In Anbetracht der Tatsache, dass Spitzenverdiener in dieser Branche nach Angaben der DWS (Deutsche Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz) zwischen 7 und knapp 80 Mio. € Jahressalär erwarten dürfen, ist der Unmut nachvollziehbar. Er ist aber geradezu fehl am Platz, wenn man bedenkt, dass die Managergehälter im Jahr 2008 in Summe nur 1,48 Prozent der Konzerngewinne in Deutschland ausmachten (S. 96).Wo die restlichen 98,52 hingehen, kümmert, so scheint es, kaum jemanden. Anstatt sich gegen diese „Gepflogenheiten“ zu wehren – so ein Zwischenresümee der Autorin –, verfolgt die Mittelschicht selbst eine „Karrierestrategie“ (von der Namensgebung des Nachwuchses bis hin zum Run auf Privatschulen), ohne zu merken, dass sie damit den Interessen der Reichen in die Hände spielt und selbst weiter verliert.

 

 

 

Die Verachtung der Unterschicht

 

Dazu trägt auch der medial angeheizte Zorn gegenüber der Unterschicht bei. Nicht weniger als 52  Prozent der Bevölkerung waren 2009 der Ansicht, dass sich „Hartz-IV-Empfänger auf Kosten der Gesellschaft ein schönes Leben machen“ (S. 135). Und es verwundert nicht, dass auch die von Schwarz-Gelb lancierte Steuerreform, so Herrmann, primär der Elite zugute kommt. So wurde der Spitzensteuersatz von 53 auf 42 Prozent gesenkt, und während „die untere Hälfte der Steuerpflichtigen fast gar keine Einkommensteuer mehr zahlt, wird sie durch die Sozialabgaben erdrückt, die fast 40 Prozent der Arbeitskosten ausmachen“ (S. 161).

 

Was wäre zu tun?

 

Ulrike Herrmann hält eine radikale Umverteilung für ebenso notwendig wie möglich, und erinnert dabei an den von dem US-Präsidenten Franklin D. Rooswelt vollzogenen „New Deal“, eine Politik, die auch unter dem Republikaner Dwight D. Eisenhower fortgesetzt wurde. So wurde von 1933 – 1955 der Spitzensteuersatz von 24 auf bis zu 91 Prozent angehoben, die Abgaben für Unternehmen von knapp 14 auf 45 Prozent erhöht und die Erbschaftssteuer von 20 auf 77 Prozent hinauf gesetzt (S. 180). Maßnahmen wie diese, so ist die Autorin überzeugt, haben mit Klassenkampf nichts zu tun. Umverteilung – dabei bezieht sie sich ausdrücklich auch auf die Befunde von Wilkinson/Pickett – täte vielmehr allen gut. Es ist wohl an der Zeit, darüber ernsthaft zu diskutieren und den Worten Taten folgen zu lassen. W. Sp.

 

Herrmann, Ulrike: Hurra, wir dürfen Zahlen. Der Selbstbetrug der Mittelschicht. Frankfurt/M.: Westend-Verl., 2010. 222 S., € 16,95 [D], 17,50  [A], sFr 28,80

 

ISBN 978-3-938060-45-2