Emergenz digitaler Öffentlichkeiten

Ausgabe: 2010 | 3

Ging es im eben besprochenen Buch um Politik im digitalen Zeitalter und deren Überschätzung für eine Demokratisierung des Politischen, so beschreibt der Medienwissenschaftler und -berater Stefan Münker die technischen und gesellschaftlichen Möglichkeiten der neuen Internetkultur. Wie Andreas Elter warnt auch er vor der Überschätzung der emanzipatorischen Potenziale des Social Web. Doch zugleich geht Münker mit einem hohen Maß an Optimismus an das Thema heran. Im Vergleich zwischen den traditionellen Massenmedien des 20. Jahrhunderts und den partizipatorischen Effekten der Netzmedien des 21. Jahrhunderts sieht er Ansätze zur Verwirklichung aufklärerischer Ideale wie dem herrschaftsfreien Diskurs und dem Aufbau einer Gegenöffentlichkeit quasi als „fünfte Gewalt“. „Die Emergenz digitaler Öffentlichkeiten“, so eine zentrale These des Autors, „verdankt ihre grundlegende Bedeutung der Tatsache, dass mit dem Web 2.0 zum historisch ersten Mal eine massenhafte Nutzung gemeinschaftlich geteilter, interaktiver Medien nicht nur möglich, sondern wirklich wird.“ (S. 10f.)

 

 

 

Kriterien demokratischer Medien

 

Stefan Münker ist überzeugt, „dass unsere kulturelle Zukunft nicht nur digital, sondern digital und vernetzt und zum großen Teil virtuell gestaltet wird“ und sieht genau darin eine Bereicherung unserer Ausdrucks- und Handlungsmöglichkeiten (S. 13). Und es ist wohl plausibel, dass sich die Welt durch mehrere hundert Millionen NutzerInnen  täglich nachhaltig beeinflussen bzw. verändern lassen wird. Der Netzweltprofi streicht im Folgenden vier Kriterien (nach dem Entwurf einer aufklärerischen Öffentlichkeit von Jürgen Habermas) heraus, die dafür charakteristisch sind: Unbeschränktheit des Zugangs, Ebenbürtigkeit der Mitglieder, Offenheit der Themen und Unabgeschlossenheit der TeilnehmerInnen. Entscheidend, so Münker, sei die spontane Herausbildung von neuen Eigenschaften oder Strukturen (Emergenzen) auf der Makroebene eines Systems infolge des Zusammenspiels seiner Elemente. Münker sieht zwar keine radikal anderen, utopischen Gegenwelten, wie sie die Netzidealisten der ersten Stunde erträumt hatten, meint aber zu erkennen, „wie die digitale Öffentlichkeit bereits über das Netz hinaus zu wirken beginnt – in die Politik, die Wissenschaft, in Wirtschaft, Kunst und den Journalismus; und natürlich in unsere alltäglichen sozialen Beziehungen“ (S. 132). Der strukturelle Wandel, den die Entstehung digitaler Öffentlichkeiten als Effekt der medialen Vernetzung für unsere Gesellschaften bedeutet, steht allerdings nach Ansicht des Autors erst am Anfang.

 

Die Zukunft der Massenmedien wird letztlich davon abhängen, „ob ihnen nach der technisch vollzogenen Digitalisierung auch die mediale Transformation von Massenmedien zu massenhaft genutzten Netzmedien“ gelingen wird. (S. 133) Im Vergleich zu den traditionellen Massenmedien sind die Netzmedien ungleich vielfältiger verwend- und gestaltbar: So können Netzmedien als „Schauplätze realer Interaktionen und sozialer Erfahrungen unter Bedingungen der Virtualität“ verstanden werden (S. 131). Zweifel äußert der Autor lediglich dahin gehend, ob die neuen sozialen und kulturellen Praktiken und der mit einher gehende Wandel der Demokratie stabil sein werden. Und er vermutet wohl zu Recht, dass in einer mehr oder weniger fernen Zukunft die heraufdämmernde digitale Ära ebenso ihr Ende nehmen wird wie derzeit die analoge. A. A.

 

Münker, Stefan: Emergenz digitaler Öffentlichkeiten. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2009. 143 S. (edition unseld; 26) € 10,- [D], 10,30 [A], sFr 17,-

 

ISBN 978-3-518-260265