Das Sandkorn, das die Erde zum Beben bringt

Ausgabe: 2001 | 2

Was würden wir nicht dafür geben, das Auftreten des nächsten Mega-Erdbebens, Orkans oder Waldbrands, Ort und Ausmaß eines technischen Großunfalls, den Verlauf der vor uns liegenden (politischen oder geistigen) Revolutionen oder auch Kriege vorhersagen.

Viel, so der amerikanische Physiker und Wissenschaftsjournalist Mark Buchanan in diesem theoretisch fundierten, zugleich ungemein spannenden wie auf höchstem Niveau auch unterhaltenden Buch, wurde unternommen, um die Rätsel der Katastrophen in Natur und Gesellschaft zu lüften oder zumindest deren Gesetzmäßigkeiten ein Stück weit zu ergründen. Gibt es, so wurde und wird gefragt, gar eine „universelle Logik, nach der plötzliche und unvorhersehbare Katastrophen aller Art notwendigerweise auftreten“? (S. 9)

Buchanan geht es nicht darum, eine alles erklärende Theorie im Sinne einer „Weltformel“ vorzulegen. Er liefert aber – und das ist alles andere als wenig – eine überzeugende Erklärung dafür, dass es diese Formel nicht geben kann, und zeigt zugleich, dass es mathematisch formulierbare Gesetzmäßigkeiten im Auftreten des Unerklärlichen und Unerwarteten gibt, die im Bereich der Umwelt, der Geschichte und der Wirtschaft gleichermaßen anzutreffen sind.

Die Welt, so die zentrale Botschaft des Autors, befindet sich ständig am Rande des „kritischen Zustands“. Die aus der Chaosforschung bekannte Metapher vom Schmetterling, dessen Flügelschlag einen Orkan auszulösen vermag, ist darüber hinaus auch ein in gesellschaftlich-sozialem Kontext geltendes Gesetz. Bereits ein Sandkorn, um in einem anderen Bild zu bleiben, kann einen (Sand)Berg zum Rutschen bringen, eine Schneeflocke eine Lawine auslösen, eine neue Idee das Gebäude der Wissenschaft zum Einsturz bringen. Wenn unsere Welt potenziell „in jedem Augenblick kurz vor plötzlichen, radikalen Veränderungen steht, dann könnten diese (...) Umwälzungen möglicher Weise unvermeidbar und selbst im letzten Moment noch unvorhersehbar sein“ (S. 88).

Anhand zahlreicher Beispiele aus unterschiedlichsten Wissenschaftsbereichen zeigt Buchanan, dass Desaster hinsichtlich ihrer Häufigkeit und ihrer Größe bestimmten Gesetzmäßigkeiten folgen, physikalisch formuliert, „Potenzgesetzen“ unterliegen. Nach dem Prinzip der von Bak, Tan und Weisenfeld im Jahr 1987 entdeckten „selbstorganisierten Kritikalität“ ist zu zeigen, dass etwa ein Artensterben eine unvermeidliche und ganz gewöhnliche Begleiterscheinung der Evolution darstellt, das Verschwinden der doppelten Zahl von Arten aber vielmal seltener ist als vergleichsweise „halb so große“ Desaster (vgl. S. 136 f.). Hingegen, so ein anderer Befund, treten Waldbrände von doppelter Fläche um den Faktor 2,48 seltener auf, doch ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich zu einer alles vernichtenden Katastrophe ausweiten, um so größer, je seltener sie ausbrechen. Dass sich indes nicht nur für Erdbeben, Orkane und andere außergewöhnliche Naturereignisse vergleichbare Proportionen feststellen lassen, sondern dass sie auch in sozialen Systemen wie Kursstürzen und –gewinnen an der Börse, Siedlungsgrößen, ja selbst bei der Resonanz wissenschaftlicher Arbeiten (Texte die doppelt so oft genannt werden wie andere sind achtmal seltener) auszumachen sind, ist ein überraschender Bescheid.

Die vielleicht wichtigste – und kritisch zu hinterfragende Konsequenz der Untersuchung Buchanans aber trifft das Bemühen um die Vorhersage zukünftiger Entwicklungen an zentraler Stelle. Die „Physik kollektiver Systeme“ lässt uns, so Buchanan, erkennen, dass „die letzten Auswirkungen eines Ereignisses davon abhängen, wie die einzelnen Aktionsfelder über Gebiete von Instabilität weltweit verbunden sind, [wodurch es] nahezu unmöglich wird, die Zukunft vorherzusagen. Man kann [demnach] den Trends nicht mehr glauben, und alles was man vorhersagen kann, ist, dass die Zukunft sich uns weiterhin entziehen wird“ (S. 244).

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Buchanans Arbeit ist eine ungemein spannende und fundierte Erkundung des Unerklärlichen, das, wie es scheint, doch einen Teil seines Geheimnisses preisgibt. Die Relevanz von Trendanalysen und das Bestreben, daraus Konsequenzen für Zukunftsentwicklungen abzuleiten sollte damit jedoch nicht pauschal in Abrede gestellt werden.

Aktueller und – so ist zu hoffen – auch folgenreicher kann die Beschäftigung mit dem Außerordentlichen kaum sein. W. Sp.

Buchanan, Mark: Das Sandkorn, das die Erde zum Beben bringt. Dem Gesetz der Katastrophen auf der Spur oder warum die Welt einfacher ist, als wir denken. Frankfurt/M.: Campus, 2001. 280 S., DM 39,80 / sFr 37,- / öS 291,-