Copy. Auf dem Weg in die Repro-Kultur

Ausgabe: 1992 | 2

"Die Ideologie des fortgeschrittenen Kapitalismus ist der fröhliche Nihilismus: nichts ist wert, dass es bleibt, wie es ist. Alles verdient verändert zu werden." In einer von Überdruss und Überfluss geprägten Gesellschaft ist der Mangel an Mangel ein Lebenselixier. Wo das Reproduktiv-Vermögen durch Fotos, Videorecorder und CD eskaliert, meinen wir "das Leben aus erster Hand versäumen zu dürfen. Originale erhalten museale Dimension und begründen ihre Existenz ebenso aus der Kopie wie umgekehrt die perfekte Kopie dem Original an Wirkung oft gleichkommt. Es fällt keineswegs leicht, die ebenso tiefsinnigen wie erhellenden Gedanken Seemanns, der zudem mit selten zu findender Prägnanz zu formulieren und zu provozieren weiß, in aller Kürze auf den Punkt zu bringen: Seine Theorie der "schwarzen" und "weißen" Bilder - das Spiegelbild ist Paradigma des einen, die Animation als total-synthetische Herstellung von Ur-Bildern die Vollendung des anderen - ist ebenso faszinierend wie beunruhigend. Der Autor durchleuchtet die seelischen Voraussetzungen des Survival-Urlaubs, analysiert den Michael-Jackson-Effekt, der selbst das Original zur Kopie werden lässt, und schildert die Schnelllebigkeit der Mode als "paradoxe Tradition der Moderne"; er ist dem Fetisch Geld in einer erfrischend neuen Variante auf der Spur, zeichnet die Vielfalt medialer Welt-Betrachtung in einem Spektrum von „Filmriss" bis "Para-Live" nach und beschäftigt sich ausführlich mit den absehbaren Anwendungen der virtuellen Realität: Nach der geschichtlichen Beherrschung des Raums steht nicht weniger als die Beherrschung von Raum und Zeit, das Phantasma der Zweit-Welt auf dem Programm. Cyberspace als Verwirklichung der organisierten und durchschauten Halluzination wird nicht nur eingebildete Welt- und Zeitreisen ermöglichen, sondern auch Kunst- und Wunschwelten "realisieren": Im einseitig vollzogenen Beischlaf erreicht die fortschreitende Anonymität der Fortschrittsgesellschaft potentiell ihren perversen Superlativ. Der diesem Buch vorangesetzten Einsicht Baudrillards, dass "die Reproduktion ihrer Essenz nach diabolisch" sei, ist angesichts dieser gar nicht fernen Zukunft wohl nur wenig entgegenzusetzen.  Dem Thema Cyberspace und zahlreichen anderen Facetten "computologischer" Weltaneignung auf der Spur ist das „Zeit Magazin" Nr. 11 vom 6.3. 1992.  Walter Spielmann 

Seemann, Hans-Jürgen: Copy. Auf dem Weg in die Repro-Kultur. Weinheim (u.a.): Beltz, 1992. 236 S. (Beltz Quadriga) DM 36,- / sFr 30,50 / öS 280,80