Autorität besitzt, wer das Sagen hat, heißt es. Was aber begründet die Autorität eines Menschen? Der belgische Psychoanalytiker Paul Verhaeghe geht dieser Frage nach und beschreibt verschiedene Zugänge von Theoretikern, die sich darüber den Kopf zerbrochen haben. Überzeugend findet er v. a. die scharfsinnigen Aussagen von Hannah Arendt. Grundlage von Autorität ist i. E., dass sie auf Basis freiwilliger Unterordnung erfolgt, ganz im Gegensatz zur Diktatur, die auf Gewalt gründet und Menschen zur Unterwerfung zwingt. Daraus ergibt sich eine weitere Frage: Warum unterwerfen sich Menschen freiwillig? Nach Arendt beruht Autorität auf einer externen Größe, an der eine Mehrheit der Menschen sich orientiert. In den letzten 2000 Jahren waren das die klassische Philosophie, das alte Rom und das Christentum. Diese Autoritäten haben als Orientierungsmacht seit der Aufklärung erheblich an Wirkmacht verloren. Gleichzeitig wird der Ruf nach Autorität, nach einem starken Staat, nach einem „Macher-Typus“ in einigen Ländern wieder lauter.
Braucht es also eine neue Art von Autorität, geprägt von den Werten der Aufklärung, die von den Menschen akzeptiert, die dem Wertewandel gerecht wird? Eine der Hauptursachen für den Orientierungsverlust sieht Verhaeghe im Diktat der neoliberalen Ökonomien und dem damit verbundenen Scheitern der traditionellen politischen Ordnung. Immer mehr Menschen würden dieses Versagen als ein Scheitern der Demokratie betrachten. Insofern seien auch Wahlen keine Garantie mehr für Demokratie. Ähnlich wie Van Reybrouck argumentiert Verhaeghe, dass Wahlen heute nicht mehr die Autorität der Regierenden befördern. „Im Augenblick haben Wahlen sogar einen antidemokratischen Effekt“, meint der Psychologe (S. 191). Er spricht davon, dass jede Version von Demokratie per definitionem zeitlich begrenzt sei und irgendwann erneuert werden müsse. Demokratie sei also niemals vollkommen sondern ein steter Prozess.
Verhaeghe plädiert dafür, dass die Politik von den Bürgern zurückerobert wird, die dann die Entmarktung unserer Gesellschaft angehen müssten (vgl. S. 197). Sein Vorschlag lautet, dass das Kollektiv die Basis dieser Autorität bilden müsste. Dazu müsste das primäre Beschlussrecht wieder der Politik zufallen und nicht den Märkten. Die zweite notwendige radikale Veränderung wäre, „dass politische Beschlüsse wieder mit Blick auf das Gemeinwohl und nicht auf das einer finanzstarken Minderheit getroffen werden müssen“ (S. 198). Schließlich fordert der Autor einen weiteren Schritt in Richtung einer deliberativen Demokratie. Deren Ziel sei es, eine Gruppe zusammenzustellen, die so gut wie möglich die Gemeinschaft widerspiegelt (vgl. S. 202). Verhaeghe beschreibt einige neue, ermutigende Beispiele von Netzwerken und Gruppen mit flachen Hierarchien, sei es in Bürgerinitiativen, Elternvereinigungen oder Aktionsversammlungen. Der Wandel zu dieser neuen Form von „horizontaler Autorität“ ist bereits erfolgreich auf dem Weg. Texas hat mit einem Deliberationsforum beispielsweise eine neue, nachhaltige Energieversorgung umgesetzt. In zwei Teilstaaten Kanadas (British Columbia und Ontario) haben Bürger einen Entwurf zur Reform des Wahlsystems ausgearbeitet, der danach von der Politik umgesetzt wurde. Verhaeghe zeigt eindrucksvoll, dass es gangbare Alternativen gibt. V. a. betont er wie Van Reybgrouck, dass weder der Populismus noch die Technokratie als Lösung funktionieren werden, denn die Medizin wäre dann schlimmer als die Krankheit. Alfred Auer
Verhaeghe, Paul: Autorität und Verantwortung. München: Kunstmann, 2016. 254 S., € 24,- [D], 24,70 [A]
ISBN 978-3956141270