Eine Vielzahl an Befunden weist auch der von Le Monde Diplomatique seit vielen Jahren herausgegebene "Atlas der Globalisierung" aus, der 2015 in Kooperation mit dem Kolleg Postwachstum der Friedrich Schiller Universität Jena erstellt wurde. Der Schwerpunkt der insgesamt 51 Beiträge, die mit anschaulichen Grafiken illustriert sind, ist diesmal eben der Frage gewidmet, was die kapitalistische Wachstumsstrategie für die Umwelt und insbesondere auch für die von ihr ausgeschlossenen Menschen - noch immer zwei Drittel der Menschheit - bedeutet.
Grenzen des Kapitalozäns
Im ersten Abschnitt "Wachstum" werden Aspekte wie das Konsumnarrativ (Juliet B. Schor), die industrielle Produktion von Fleisch, Eiern und Milch (Hila Sezgin), "Chinas neue Mittelschichten" (Shi Ming) oder "Wachstum und Naturausbeutung in Lateinamerika" (Kristina Dietz) erörtert. Elmar Altvater, Träger des Salzburger Landespreises für Zukunftsforschung 2013, arbeitet den "Grundwiderspruch des 21. Jahrhunderts", dass der globalisierte Kapitalismus auf eine stetig wachsende Wirtschaft angewiesen sei, nun aber an natürliche Grenzen stoße, heraus. In Anlehnung an den von Paul Crutzen geprägten Begriff des "Anthropozän" spricht Altvater vom "Kapitalozän", in dem Geoingeneure die zerstörerischen Folgen des industriellen Wachstums mit der Technik bekämpfen, "die sie verursacht haben" (S. 44), was zum Scheitern verurteilt sei.
Im zweiten Abschnitt geht es um "Versuche in Grün". Ansätze eines "Green New Deal" werden kritisch gewürdigt, wenn diese auch soziale Aspekte der Umverteilung berücksichtigen (Ulrich Schachtschneider). Das "Projekt Energiewende" wird als Chance gesehen (Manfred Kriener), ebenso die Forcierung von Bereichen wie Erziehung, Bildung und Gesundheit in einer sozialen Dienstleistungsgesellschaft (Norbert Reuter). Andere Beiträge verweisen freilich auf die "Illusion vom sauberen Wachstum" (Ulrich Brand) sowie die Fallen des Rebound-Effekts (Tilman Santarius).
Dass die bisherige Wachstumsstrategie in globaler Perspektive große Konflikte heraufbeschwört, machen die Beiträge des dritten Abschnitts deutlich. Vor "Peak Everything" im von Beschleunigung und Expansion getriebenen Kapitalismus (Birgit Mahnkopf) ist ebenso die Rede wie von den schlechten Arbeitsbedingungen des "Proletariats der Globalisierung" (Florian Butollo, Annette Jensen, Cosima Dannoritzer) sowie von den sich zuspitzenden Landnutzungskonflikten (Beatriz Rodriguez u. a.) und Umweltschäden, etwa durch das Fracking (Kiran Pereira) oder den "Erdgasboom mit Nebenwirkungen" (Henning Mümmler-Grunow). Auch aktuelle Probleme in Europa werden angesprochen, etwa die sich verschärfende soziale Frage (Steffen Liebig u. a.; am "Fall Griechenland" Maria Markantonatou).
Postwachstum
Der umfangreichste vierte Teil widmet sich schließlich Perspektiven eines "Postwachstums". Die taz-Journalistin Ulrike Herrmann verweist zunächst auf den "schwierigen Übergang" vom wachstumsgetriebenen Kapitalismus in ein anderes Wirtschaften, da es für den "Ausstieg" keinen flächendeckenden Plan gäbe. Barbara Muraca vom Kolleg Postwachstumsgesellschaften verortet den Beginn der Postwachstumsdebatten im Frankreich der 1980er-Jahre, von wo der Funke zunächst auf südeuropäische und erst später auch auf andere Länder übergesprungen sei. In den Folgebeiträgen werden Einzelaspekte wie eine solidarische Landwirtschaft ("Säen für die Zukunft", Christiane Grefe), Share-Economy (Reiner Metzger), eine "Ökonomie ohne Abfall" (Annette Jensen) sowie Neuansätze in der Stadtentwicklung wie "Transition Towns" oder "Shrimping Cities" ausgeführt. Dass auch für die Länder des Südens zumindest Wege eines anderen Wachstums nötig sind, zeigen Alberto Acosta für Südamerika und Chandran Nair für Asien, "wo Bildung und sauberes Wasser viel wichtiger (seien) als freie Märkte" (S. 126). Auch Neuansätze im Bereich der Technik ("Open Design"), der Klimapolitik (mit "Deinvestment" wird von Rebecca Solnit die Strategie des Finanzboykotts der klimaschädlichen Konzerne beschrieben) sowie generell der Suffizienz, die die Geldökonomie zumindest teilweise zurückdrängt (Adelheid von Biesecker, Veronika Bennholdt-Thomsen u. a.) werden vorgestellt. Matthias Schmelzer gibt einen guten Überblick über "Spielarten der Wachstumskritik", wobei er fünf Ansätze darlegt: einen konservativen, einen liberalökologischen, einen radikalökologischen (Niko Peach), einen sozialökologischen sowie eben einen feministischen (S. 116ff.).
Einen kritischen Blick auf diese "Inseln des Übergangs" wirft Mathias Greffrath in seinem Einleitungsessay. Nicht weil er die im Band geschilderten Alternativen für falsch hält, sondern weil diese an politische Grenzen stoßen. Gegen die Hoffnung auf einen allmählichen Wandel von unten sprechen für Greffrath nicht nur die sich schließenden Zeitfenster, sondern auch die historische Erfahrung, dass nur normative Zwänge wie Notlagen, Katastrophen oder Kriege Gesellschaften dauerhaft verändern. Alle Überlegungen zur "Postwachstumsgesellschaft" sowie einschlägige "Pioniertaten" würden "Übungen in Vergeblichkeit bleiben, wenn sie nicht mit einer Politisierung der ökologischen Aktivisten und einer Instandsetzung der politischen Institutionen einhergehen" (S. 13), macht der Autor dann doch eine Zukunftsperspektive auf. Es gälte nicht nur, die Aufmerksamkeit auf Peak Oil, Peak Soil oder Peak Water zu richten, sondern auch auf einen drohenden und abzuwendenden "Peak Democracy". Ein Befund, dem wohl zuzustimmen ist, was freilich die Qualität der äußerst informativen Publikation keineswegs schmälert, insbesondere weil in vielen der Beiträge Machtfragen explizit thematisiert werden.
Hans Holzinger
Atlas der Globalisierung. Weniger wird mehr. Hrsg. v. Le Monde Diplomatique u. a. Berlin: taz-Verlag 2015. 173. S. Mit zahlreichen Abb. Download mittels jedem Verkaufsexemplar beigefügten PIN-Code. € 16,-
ISBN 978-3-937683-57-7