Der Schwarze Juni

Ausgabe: 2017 | 2
Der Schwarze Juni

Von epochaler Bedeutung waren für Hans-Werner Sinn, emeritierter Professor für Volkswirtschaft und ehemaliger Präsident des ifo-Instituts, zwei Ereignisse im Sommer 2016: die Brexit-Entscheidung der Briten und die OMT (Outright Monetary Transaction)-Entscheidung des deutschen Verfassungsgerichts. Beide Ereignisse würden die Zukunft der EU, des Euro und Deutschlands maßgeblich verändern. Der Autor befürchtet, dass sich die Eurozone ohne die britische Gegenkraft nach dem Brexit immer rascher zu einer Fiskalunion entwickeln wird. Die Entscheidung des deutschen Gerichts, der Politik der Europäischen Zentralbank keine Schranken zu setzen bedeute, dass die EZB weiterhin unbegrenzt Staatspapiere kaufen kann. „Dabei gaben die Karlsruher mit ihrem Urteil der EZB nichts weniger als einen Freifahrtschein für eine Politik der Vergemeinschaftung der Haftung für Staatsschulden (…). Nutznießer dieser Politik sind vor allem die kriselnden Südländer Europas und Frankreich, Zahlmeister die noch einigermaßen gesunden Nordländer, allen voran Deutschland“ (S. 14).

Für den Experten gibt es keinen Zweifel: Europa braucht Reformen nötiger denn je. Dabei geht es darum, die Konstruktionsfehler des aktuellen europäischen Modells zu überwinden und eine wirklich funktionsfähige Union zu schaffen. Er fordert als Gebot der Stunde, „die Zugangskanäle für den deutschen Sozialstaat zu verschließen“ (S. 307), eine Neugrundierung des Eurosystems sowie eine Neuausrichtung der Flüchtlings- und Migrationspolitik. Als grundlegender Leitgedanke aller anstehenden Maßnahmen biete sich das Pareto-Prinzip an. Dieses besagt, „dass eine europäische Politikmaßnahme dann sinnvoll ist, wenn sie mindestens ein Land besserstellt, ohne dass ein anderes Land Schaden erleidet“ (S. 307). Vor allem aber müsse Deutschland dringend Änderungen der EU-Verträge verlangen und zwar in den Bereichen Gemeinschaftswährung, Migration und Subsidiarität. Zur Gesundung des Euro nennt Sinn vier Reformoptionen (Transferunion, Deflation im Süden, Nachinflationierung des Nordens, Austritt Deutschlands aus der Währungsunion nebst Abwertung).

Schließlich unterbreitet der Volkswirt 15 Vorschläge zur Gesundung der EU: 1. Länder, die ihre Wettbewerbsfähigkeit verloren haben, können den Euro verlassen, um sie durch eine Abwertung wiederzuerlangen. 2. Die Staatengemeinschaft vereinbart Regeln für den geordneten Konkurs eines Staates. 3. Die EZB darf im Rahmen ihres Mandats nur noch erstrangige Wertpapiere mit einem AAA-Rating am offenen Markt kaufen und 4. dürfen Notenbanken nur noch im Verhältnis zur Landesgröße Geld durch die Kreditvergabe an die lokale Volkswirtschaft schöpfen. 5. Die Stimmrechte im EZB-Rat werden nach der Größe der Haftung der Länder vergeben. 6. Ansprüche auf steuer- finanzierte Sozialleistungen dürfen im Gastland nur in dem Maße geltend gemacht werden, wie sie sie zuvor selbst durch Steuern finanziert haben (Heimatland- statt Gastlandprinzip für EU-Bürger). 7. Anerkannte Asylbewerber werden wie einheimische Staatsbürger in das Sozialsystem integriert, die Asylanträge sind allerdings außerhalb der EU-Grenzen zu stellen. 8. Die EU-Länder sichern ihre Grenzen gemeinschaftlich. 9. Hilfen für schwächer entwickelte EU-Nachbarstaaten sind empfehlenswert. 10. Aussetzung des Mindestlohns, aber „Aktivierende Sozialpolitik“. 11. Einführung eines Punktesystems für hoch qualifizierte Migranten. 12. Nachbarländern könnte der Status eines assoziierten Mitglieds angeboten werden, allerdings ohne die Arbeitnehmer-Freizügigkeit. 13. Europaweite Netze im Bereich des Internet, der Telefonie, der Straßen und Schienen, des Strom- und Gasverbunds sind auszubauen. 14. Ein europäischer Subsidiaritätsgerichtshof ist einzurichten. 15. Nicht zuletzt sollen die EU-Länder ihre Armeen zusammenlegen und eine gemeinsame Außenpolitik in Sicherheitsfragen betreiben. Nur so könne eine weitere Verschärfung der europäischen Krise vermieden werden. Hans-Werner Sinn hat immer deutlich Stellung bezogen und ist dafür – ob in Sachen Aussetzung des Mindestlohns, Flüchtlingskrise, die Rolle Deutschlands in der EU – vielfach kritisiert worden. Ob seine vordergründig konservativ-neoliberalen Ratschläge wirklich zur Gesundung der EU beitragen können, darf bezweifelt werden. Alfred Auer

Bei Amazon kaufenSinn, Hans-Werner: Der Schwarze Juni. Brexit, Flüchtlingswelle, Euro-Desaster – Wie die Neugründung Europas gelingt. Freiburg: Herder-Verl., 2016. 382 S., € 24,99 [D], 27,90 [A] ; ISBN 978-3-451-37745-7