Rick Rubin

Rick Rubin: kreativ

Ausgabe: 2024 | 1
Rick Rubin: kreativ

Der legendäre Musikproduzent Rick Rubin habe einen Selbsthilferatgeber geschrieben, der perfekt zur heutigen Arbeitswelt passt, schreibt „Der Spiegel“ in einem ausführlichen Feature, das auf dem Buch und einem längeren Gespräch mit dem Autor basiert. Das stimmt, das Buch passt exakt zur modernen Arbeitswelt mit dem weiter wachsenden Anteil an kreativen und problemlösenden Tätigkeiten. Aber es stimmt auch wieder nicht. Sicher lässt sich dieses Buch als Selbsthilferatgeber lesen, doch erschöpft es sich darin nicht und wäre auch unter Wert behandelt. Denn in dem Buch steckt tiefes Wissen über die Welt und die Rolle des Menschen in ihr. Man mag das spirituell nennen oder esoterisch, oder auch den Begriff Weisheit verwenden, jedenfalls spiegeln sich in dem, was Rubin schreibt, tiefgehende philosophische Einsichten über Kunst, Kreativität und schöpferische Schaffensprozesse. Kurzum, das Buch ist widersprüchlich wie die neue Arbeitswelt, aber es spürt den wirklich wichtigen Fragen menschlichen Schaffens nach.

In 78 kurzen Kapiteln breitet der Autor sein Wissen und seine Weltsicht aus. Es ist ein ruhiger, fast meditativer Text, zugleich prägnant und auf den Punkt hin geschrieben. Es geht dabei um Dinge wie Gewahrsein, Regeln, Zuhören, Geduld, Offenheit, Harmonie, Freiheit oder auch „Etwas abschließen, um etwas Neues zu beginnen“, um einige der Kapitelüberschriften zu nennen. Bei Themen wie diesen bleibt es nicht aus, dass durchaus einige Gemeinplätze und Banalitäten den Weg in den Text gefunden haben. Und auch einige Widersprüche verbergen sich darin, wie Rezensenten verschiedener Medien süffisant vermerkt haben. Beispiel Regeln.

Regeln brechen

Auf der einen Seite ermuntert Rubin zum kreativen Regelbruch und zum Ausbrechen aus Gewohnheiten, auf der anderen Seite empfiehlt er, Regeln aufzustellen, um die eigene Arbeit zu kanalisieren. Das kann man kritisieren, man sollte aber auch die unterschiedlichen Kontexte reflektieren, in denen Rubins Empfehlungen stehen: Auf der einen Seite geht es darum, von außen kommende oder verinnerlichte Regeln, die den Schaffensprozess einschränken, zu erkennen und zu brechen, auf der anderen Seite steht die Intention, den eigenen Schaffensprozess selbstbestimmt zu kontrollieren. Zwei vollkommen unterschiedliche Ansatzpunkte also.

Regeln aber sind nur ein Thema unter den zahlreichen Ratschlägen, die Rubin kreativ Schaffenden mitgibt. Doch ist sein Buch wie gesagt kein Selbsthilferatgeber. Sondern eher eine Meditation, die an grundlegende Fragen rührt: Was soll Kunst? Woher kommen Kreativität und künstlerische Inspiration? Und was braucht es, damit ein kreativ schaffender Mensch sie umsetzen kann?

Kreativität und Wahrnehmung

Rick Rubins Buch ist ein Manifest für freies kreatives Schaffen, für künstlerische Autonomie und für die Unabhängigkeit des Kreativen von gesellschaftlichen Regeln und Normvorstellungen. Kreativität ist für Rubin jedoch keine exklusive Fähigkeit eines genialen Geistes. Er wendet sich klar gegen den noch bis in die 1950er-Jahre dominierenden Genie-Ansatz der Kreativität, der immer noch und immer wieder aufscheint. Für Rubin aber ist menschliche Kreativität „keine seltene Fähigkeit“, sondern „ein grundlegender Aspekt des Menschseins“. Jeder Mensch kann kreativ sein, aber die Wurzel der Kreativität liegt nicht in uns. Der kreativ Arbeitende ist eher eine Art Medium, das äußere Einflüsse aufnimmt und diese verarbeitet, statt eigenständig aus sich heraus etwas zu schaffen. „Der Geist meint, das Material käme von innen. Doch das ist eine Illusion“ (S. 20), so Rubin. Die „große Quelle“ (S. 278) finde sich draußen, im Universum. Und Kunst wiederum ist ebenso wenig exklusiv wie Kreativität. Nicht Können ist ihr Ziel, nicht Perfektion. Rubin schreibt: „Ziel der Kunst ist es nicht, Perfektion zu erlangen, sondern miteinander zu teilen, wer wir sind. Und wie wir die Welt sehen. (S. 185). Wie wir die Welt sehen – in diesem kurzen Satz sind zugleich die beiden zentralen Themen seines Buchs benannt: die Welt, das Universum, und wie wir sehen, unsere Wahrnehmung. Ganz kurz gesagt: Wurzel der Kreativität ist eine intensivierte, vertiefte Wahrnehmung. Die Quelle der Kreativität, ihr Quellenmaterial, stammt aus dem Universum.

Uneindeutigkeiten und Widersprüche

Wer auf begriffliche Eindeutigkeit, auf trennscharfe Definitionen und auf logische Stringenz Wert legt, wird mit diesem Buch nicht gut zurechtkommen. Es gilt, Uneindeutigkeit und Unschärfe zu akzeptieren, um die Muster zu erkennen. Man muss sich darauf einlassen – und ist damit schon recht nah dran an Rubins Weltsicht.

Es heißt auch Widersprüchlichkeiten aushalten: Während sich im Fall der Regeln vermeintliche Widersprüche in feine Differenzierungen aufgelöst haben, steckt in Rubins Universum ein wirklicher und großer Widerspruch. Wie der Autor sein Universum konzipiert, bleibt rätselhaft. Auf der einen Seite ist es Konstruktion im Sinne des Konstruktivismus, eine Wirklichkeit, die wir uns herstellen. Auf der anderen Seite ist es eine Wesenheit, die in Erscheinung tritt, sich bemerkbar macht, einen anstupst, die Signale und Nachrichten aussendet. Es liege an uns, diese zu übersetzen. „Wir sind allesamt Antennen für kreatives Denken“ (S. 20), schreibt Rubin. Mit der Rede vom Universum, das einen anstupst, übernimmt das Buch nun klar einen Begriff aus der esoterischen Weltsicht.

Kreislauf von Ideen

Aber vielleicht muss man das auch gar nicht als Widerspruch sehen, sondern als zwei unterschiedliche Perspektiven, die der Autor nur nicht ausdrücklich voneinander trennt. Da ist auf einer Seite das natürliche Universum, versinnbildlicht vielleicht von Kants bestirntem Himmel über uns. So schreibt Rubin, ein Kloster, der Wald, das Meer, seien „großartige abgelegene Orte, an denen das Universum direkt mit uns kommunizieren kann“ (S. 77). Aber dieses natürliche Universum ist vielen Menschen in hochentwickelten und technisierten Kulturen zunehmend fremd geworden, vom alltäglichen Wetter einmal abgesehen. In unserem Alltag bewegen wir uns in einem anderen, einem kulturell überformten Universum. Hier ist unsere komplette Umwelt kulturell bedingt, geprägt, geformt. Das ist auch die Welt der Ideen, Konzepte und Theorien, der Wissenschaft und Musik, die Welt der Artikel, Bücher, Klänge, der Beats und Raps: die Welt, in der Rick Rubin sich bewegt. Tatsächlich spricht der Autor an einer Stelle in diesem Sinne von Kultur: „Es ist ein symbiotischer Kreislauf. Die Kultur beeinflusst, wer wir sind. Und wer wir sind, beeinflusst unsere Arbeit, die wiederum in die Kultur einfließt“ (S. 190).

Aber lassen wir uns von Rubins Ideen anstupsen und erinnern uns an den französischen Sozialforscher Gabriel Tarde (1843-1904), dessen Schriften im Kontext der Verbreitung sozialer Innovationen in den letzten Jahren neu entdeckt worden sind. Innovation vollzieht sich über Erfindung und Nachahmung, so Tardes zentrale Erkenntnis. Eine neue Idee (oder Erfindung) wird übernommen und dabei, vielleicht auch nur geringfügig, verändert und angepasst. So entstehen Ideenketten, deren Elemente sich aufeinander beziehen und einander variieren, ohne dass dieser Bezug offen zutage treten müsste. Es sind eher Muster, Ähnlichkeiten, Variationen.

Begreift man nun Rubins Universum in der zweiten Perspektive als Welt der Kultur, so entsteht Kreativität (und Kunst) in einem Prozess der Weitergabe von Ideen, der den Vorstellungen Tardes vielleicht gar nicht unähnlich ist. „Kunst ist ein Kreislauf von Ideen“ (S. 26), schreibt auch Rubin – und braucht damit das esoterische Universum eigentlich gar nicht mehr.

Rubins Universum – eine Unschärfe, die Anlass gibt, nachzudenken. Nicht das Schlechteste, was ein Buch zu leisten vermag.