Transformotive Wissenschaft

Ausgabe: 2013 | 3

Mit der im Jahr 2009 erschienenen Erstausgabe des nun mit zahlreichen Ergänzungen und aktualisierten Kommentaren vorgelegten Bandes haben die AutorInnen – Uwe Schneidewind ist Präsident des Wuppertal Instituts, seine Kollegin ist Mitglied des Nationalkomitees zur Umsetzung der UN-Dekade „Bildung für Nachhaltige Entwicklung“ und Lehrbeauftragte an der Universität Lüneburg - bereits wesentliche Impulse für eine neue Akzentuierung der Bildungslandschaft in Deutschland vorgelegt. Mit der nun vorliegenden Neuauflage wird das Grundanliegen, die Debatte um ein neues Verständnis von Wissenschaft und Gesellschaft zu intensivieren, deutlich unterstrichen.

 

Eingangs werden die Notwendigkeit einer „Forschungswende“ des deutschen Wissenschaftssystems eingemahnt und Bausteine eines neuen Gesellschaftsvertrags zwischen Wissenschaft und Gesellschaft benannt. Nachhaltigkeit, das Kernanliegen einer Transformativen Wissenschaft, müsse vor allem als Gerechtigkeitskonzept verstanden, Innovation weniger als technische, sondern als systemische Herausforderung begriffen werden. Zudem wird ein Mangel an Leitbildern bei den führenden wissenschaftlichen Institutionen beklagt. Dass über kritische Befunde hinaus vor allem auch Reformvorschläge – jeweils in Kästen gesetzt – unterbreitet werden, welche den aktuellen Bildungsdiskurs mit reflektieren, zählt fraglos zu den Stärken dieses Bandes. Leitbilder, so eine konkrete Forderung, sollen nicht nur von wissenschaftlich etablierten Institutionen, sondern von möglichst vielen gesellschaftlichen Gruppen [etwa aus der Zivilgesellschaft] eingefordert und entwickelt werden; junge WissenschaftlerInnen sollten durch „Grenzgänger“-Anreize motiviert werden, transdisziplinäre Pfade zu beschreiten; sozial-und geisteswissenschaftliche Kompetenzen sollten im nationalen Nachhaltigkeitsdiskurs gestärkt werden. Grundsätzlich gelte es neben „Systemwissen“ (Problem-Analyse) und „Zielwissen“ (Visions-Entwicklung) das „Transformations-Wissen“(Diffusion und Lernen) als wesentliche dritte Säule zu etablieren. Letztlich gehe es beim Plädoyer für eine transformative Wissenschaft „um die Suche nach neuen Gleichgewichten im Wissenschaftssystem: zwischen disziplinärer Theorie- und Methodenentwicklung, zwischen Grundlagenforschung und der Ausrichtung der Wissenschaft auf konkrete gesellschaftliche Problemlagen, zwischen konzeptionellem und transformativem Lernen, zwischen technischen, institutionellen und kulturellen Wissensbeständen“ (vgl. S: 75).

 

Die Wissenschaft der „reflexiven Moderne“ sollte einen „Modus 3“-Status anstreben, der stark kontextualisiert ist, (Zivil-)Gesellschaft als Akteur der Wissensproduktion anerkennt, transformativ ausgerichtet ist und im Zusammenspiel von Wissenschaft und Gesellschaft neue Qualitätssysteme entwickelt (vgl. S. 122). Reformvorschläge dazu: Etablierung von „Inseln der Heterodoxie“; Verankerung von Kriterien transdisziplinärer Forschung im Wissenschaftssystem.

 

 

 

Der lange Weg zur Nachhaltigkeit

 

Langsam, so der Befund des dritten Abschnitts, sei in der deutschen Forschungslandschaft ein „Klimawandel Richtung Nachhaltigkeit“ zu beobachten. Von den insgesamt € 70 Milliarden, die 2010 in Forschung und Entwicklung investiert wurden (das sind 2,82 Prozent des Bruttoinlandsprodukts), gingen rund zwei Drittel in industrielle Forschungsprojekte (vor allem die Sektoren Fahrzeugbau, Elektroindustrie, Chemie und Pharmazie) [vgl. A. 140f.]. Mit Blick auf die programmbezogene Förderung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), das BMBF und Förderungen aus anderen Ressorts plädiert das AutorInnenduo insbesondere für die Stärkung der sozial-ökologischen Forschung (mehr Mittel für die Vernetzung zwischen Hochschulen, nationalen freien Forschungseinrichtungen, Stärkung nationaler Forschungsinitiativen wie Helmholtz-Gemeinschaft, Fraunhofer-Gesellschaft u. a.). Reformvorschläge: Schaffung eines Instituts für „transdisziplinäre Methoden“, Einrichtung von Nachhaltigkeitsclustern und Graduiertenschulen. Bei einem „Blick über den Tellerrand“ wird Österreich im Hinblick auf die einschlägigen Forschungsinitiativen ein erstaunlich gutes Zeugnis ausgestellt. Insbesondere die Initiative „Wachstum im Wandel“ sei „viel breiter und offener als die entsprechende gegenwärtig in Deutschland geführte Diskussion“ (Seite 203). Weiters unter die Lupe genommen werden die Schweiz, die Niederlande, das Stockholm Resilience Centre sowie internationale Netzwerke.

 

„Nachhaltigkeit als Motor transformativen Lernens“ steht im Mittelpunkt des vierten Abschnitts. Vor allem in der Erwachsenenbildung verankert, sollten die Rahmenbedingungen des individuellen wie kollektiven „In der Welt seins“ auch Thema des studentischen Engagements werden, fordern die AutorInnen. Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) sei an den Hochschulen Deutschlands noch wenig etabliert, wenngleich Baden-Württemberg hier eine Vorreiterrolle einnehme. In der „Zukunftsstrategie 2015+“ zumindest seien folgende Ziele festgeschrieben: Ausbau der Nachhaltigkeitswissenschaften, Vermittlung von BNE-relevanten Kompetenzen in Lehre und Studium, Reformation der Lehrerbildung, Implementierung der Prinzipien der Nachhaltigkeit in allen betrieblichen Organisationen, Erarbeitung eines nationalen Nachhaltigkeits-Indikatorenberichts für den Hochschulbereich. Für die von Nachhaltigkeit werden in Anlehnung an Armin Wiek von der „Arizona School of Sustainability folgende fünf Kernkompetenzen benannt: Systemanalyse-Kompetenz, antizipatorische, normative, strategische und interpersonelle Kompetenz (vgl. S. 252). Als Beitrag zu einer neuen „Sinn-Orientierung“ werden u. a. eine „Weiterbildungsoffensive Professionalisierung und Nachhaltigkeit“, eine Web 2.0-basierte „nachhaltige Supercool-School“, der Ausbau von Professuren für NE und die Einrichtung von Projekten des forschenden Lehrens in virtuellen Welten („Sustainable Second Life“) angeregt.

 

„Wie umsteuern?“ Das abschließende Kapitel fasst die Befunde und Vorschläge nochmals zusammen und fragt danach, woher die Impulse für die Umsetzung zu einer „Transformativen Wissenschaft“ kommen (sollten). Ausgehend von einer Multi-Ebenenperspektive auf das deutsche Wissenschaftssystem mit Megatrends (Neue Kommunikationstechnologien, demographischer Wandel, steigende Defizite der öffentlichen Haushalte, Globalisierung), Regimen (Wissenschaftspolitik, Wettbewerb, Föderalismus, disziplinäre Organisation der Hochschulen u. a. m.) und Nischen (Nachhaltigkeit als Profilierungsstrategie, Netzwerkstrategien, Capacity Building, nachhaltigkeitsorientierte Politik einzelner Bundesländer) [vgl. S. 229] werden die organisierte Zivilgesellschaft, Stiftungen und innovative Politiken auf Bundesländerebene als wichtigste „Change Agents“ angesehen. Reform- vorschläge: Umsetzung eines „Centrum für Nachhaltige Hochschulentwicklung“ (CNH), Schaffung eines „Nachhaltigkeitsverbands für die Deutsche Wissenschaft“. Mit einem abschließenden Blick auf einige universitäre Leuchtturm-Institutionen (Lüneburg, Hamburg, Kassel) fällt das Fazit vorsichtig optimistisch aus. „Umsteuern im Wissenschaftssystem ist möglich - aber es wird ein langer Weg. Die Herausforderungen, vor denen moderne Gesellschaften stehen, machen es lohnenswert, diesen Weg auch in den kommenden Jahren weiter zu gehen.“ (S. 376). W. Sp.

 

 Schneidewind, Uwe; Singer-Brodowski, Mandy: Transformotive Wissenschaft. Klimawandel im deutschen Wissenschafts- und Hochschulsystem.

 

Marburg: Metropolis-Verl., 2013. 419 S. € 24,90 [D], 25,65 [A], sFr  37,35 ; ISBN 978-3-7316-1003-8