
Die ständigen Klagen „Europa in der Krise“, „Europa am Rande des Abgrunds“ oder gar „Die letzten Tage Europas“ klingen beinahe schon obszön. Man kann es nicht mehr hören. Und wenn einem der Titel des vorliegenden Buches schon bekannt vorkommt, dann liegt es nicht nur am vielkommunizierten „Dauerkrisen-Gerede“, sondern auch daran, dass Günter Verheugen, der ehemalige Vizepräsident der EU-Kommission, bereits 2005 ein Buch mit dem Titel „Europa in der Krise“ publiziert hat. Schon damals hat der SPD-Politiker konstruktive Vorschläge für „eine Neubegründung der europäischen Idee“ zur Diskussion gestellt. Heute versuchen wir immer noch, Europa nicht nur neu zu denken (vgl. PZ 3/2014), sondern auch neu zu gestalten. Anstatt sich immer wieder zu fragen, in welche Richtung Europa steuern und wer den Ton angeben sollte, wäre es sinnvoll, positive Visionen für ein künftiges Europa zu formulieren.
Edmund Stoiber und Bodo Hombach lassen deshalb Experten und Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Sport zu aktuellen europäischen Fragen und zur Zukunft der Staatengemeinschaft zu Wort kommen. Europa, so Bodo Hombach in seinem Vorwort, müsse sich in der Lebenswirklichkeit der Europäer einwurzeln, denn „die Erosion des europäischen Bewusstseins ist gefährlich weit fortgeschritten“ (S. 11). Kosmetik an der Konstruktion Europa ist für Hombach längst keine Lösung mehr: „Der allgemeinen Europa-skepsis muss etwas Neues und inhaltlich Überzeugendes entgegentreten.“ (S. 11) Nicht zuletzt erinnert er daran, dass Krieg als Mittel der Konfliktlösung künftig ausfallen muss und plädiert daher für die Herausarbeitung von Gemeinsamkeiten und die Definition geteilter Interessen als europäische Kernaufgaben, die da wären: Friedenssicherung, Regionalität (es gilt uneingeschränkt das Subsidiaritätsprinzip) und Weltoffenheit.
Edmund Stoiber meint mit Hinweis auf das Ergebnis des britischen EU-Referendums, dass dort die Leidenschaft gewonnen hat, wie fast immer in der Politik. Warum schafft es Europa nicht, bei den Themen Frieden, Freiheit und Sicherheit eine solche Begeisterung zu wecken? Eine überzeugende Idee, wie das gelingen soll, bleibt der Ex-Politiker freilich schuldig. Er regt lediglich an, dass sich ein Konvent aus Abgeordneten der nationalen Parlamente und des Europäischen Parlaments Gedanken über die Konkretisierung des Subsidiaritätsprinzips machen sollte.
Grundtenor der Beiträge ist die Ansicht, dass das europäische Einigungs- und Friedensprojekt längst kein Selbstläufer mehr ist und deshalb immer wieder aufs Neue erkämpft werden muss. Laut viel zitierter Umfragen steht die Mehrheit der BürgerInnen in Deutschland und in den anderen EU-Staaten aber nach wie vor zur europäischen Idee. Was fehlt, ist eine europäische Öffentlichkeit, ein genuin europäischer Demos. Klaus Gretschmann, ehemaliger Generaldirektor im Europäischen Ministerrat, hat sich darüber Gedanken gemacht, welches Verfahren einen ausführlichen Diskurs und eine Kompromissfindung ermöglichen könnte. Er schlägt die Einführung des Konzepts „Präferenda“, aufbauend auf einer Kombination von Präferenzen und Referenden, vor. Intention ist, die BürgerInnen zu hören und im Diskurs zu beteiligen, „indem deren Wünsche, Präferenzen, Probleme und Vorstellungen in den politischen Entscheidungsprozess soweit möglich Eingang finden“ (S. 189). Wie andere Autoren vor ihm, schlägt Gretschmann auch vor, ein Redesign, einen völligen Um- bzw. Neubau der EU zu wagen (vgl. S. 190). Dazu seien ein neues Gleichgewicht zwischen Konsolidierung und neuer Dynamik, zwischen Risiko und Chance, zwischen Wachstum und Verteilung sowie ein breit aufgestellter sozialer Diskurs erforderlich. Die nötigen Reformen sollten aber nicht nur auf dem Papier stehen, sondern zügig umgesetzt werden. Alfred Auer
Europa in der Krise. Vom Traum zum Feindbild? Hrsg. v. Bodo Hombach u. Edmund Stoiber. Marburg: Tectum-Verl., 2017. 217 S., € 19,95 [D/A] ISBN 978-3-8288-3854-3