Die Utopie der Regeln

Ausgabe: 2016 | 2,3
Die Utopie der Regeln

graeber - KopieDavid Graebers Buch über die Bürokratie kann man mit Gewinn lesen. Er zeigt, dass Kritik an Bürokratie nicht eine Kritik am Wohlfahrtsstaat sein muss. Denn in vielen westlichen Staaten wird Bürokratie immer als Kostenfaktor, als Schikane des Staates gegen eine dynamische Wirtschaft gesehen. Graeber öffnet den Horizont und zeigt Bürokratie zwar nicht als etwas völlig anderes, aber doch als Phänomen, das sich nicht auf staatliche Strukturen beschränkt, sondern das sich in vielen gesellschaftlichen Bereichen breit macht, gerade in der sogenannten „freien Wirtschaft“. Graeber ist aber noch etwas radikaler: Er meint, dass der Neo-liberalismus zu einer Explosion des Umfangs der Bürokratie geführt hat.

Um Graebers Denken auf die Spur zu kommen, können wir bei einer Geschichte einhaken, die er in der Mitte des Buches erzählt. Graeber hatte eine Teefabrik bei Marseille besucht, die von den Arbeitern besetzt war. Bei einem Rundgang erkundigte er sich nach den Gründen für die Besetzung. Nur oberflächlich gehe es um die drohende Verlagerung des Unternehmens nach Polen. In Wirklichkeit drehe es sich aber um die Gewinnverteilung. Effizienzgewinne seien nicht den Arbeitern in höheren Löhnen ausbezahlt worden. Auch seien keine neuen Arbeiter eingestellt und die Produktion ausgeweitet worden, sondern mit dem Geld vor allem die mittlere Managementebene verstärkt worden. Die Anzugträger hätten alle wohlklingende Titel, aber fast nichts zu tun, weshalb sie ihre Zeit größtenteils damit verschwenden, im Betrieb herumzuspazieren und die Arbeiter zu beobachten, Erfassung- und Bewertungsinstrumentarien zu entwickeln und Pläne und Berichte zu erfassen. Da ist sie die Bürokratie, über die Graeber schreibt.

Die Dimension der Bürokratie habe eine zusätzliche Ausbauphase in der Zeit der Finanzialisierung des Kapitalismus erreicht. Graebers Ansatz wird mit drei Fragen nachvollziehbar gemacht: Wie viel Bürokratie erleben Sie, wenn sie ein Konto bei einer Bank eröffnen? Wie viel, wenn Sie einen Kredit aufnehmen? Werden Finanzierungsvorgänge immer wichtiger in der Ökonomie?

Graeber spricht von einem permanenten Finanzialisierungsvorgang im neoliberalen Kapitalismus. Das bedeutet, dass ein stetig wachsender Teil der Unternehmensgewinne in Form von Rentenabschöpfung anfällt. „Da es sich dabei im Grunde um nicht viel mehr als legalisierte Erpressung handelt, wird dieser Prozess durch eine stetig wachsende Zahl von Regeln und Vorschriften begleitet sowie durch eine immer ausgeklügeltere und allgegenwärtige Androhung physischer Gewaltanwendung, um seine Durchsetzung sicherzustellen. Zudem werden Gewinnanteile der Rentenabschöpfung wieder eingesetzt, um einzelne Gruppen der oberen Mittelschicht und der Facharbeiter zu begünstigen oder um neue Gruppen von Unternehmensbürokraten zu schaffen, die mit Papierkram und Verwaltungsarbeit befasst sind“ (S. 53) Graeber beklagt die ständige Zunahme offensichtlicher `Bullshit-Jobs (Graeber) wie „strategische Visionskoordinatoren, Human-Resources-Berater, Analysten für Rechtsabteilungen“ und dergleichen.

Die größten Kritiker der Bürokratie seien selbst die größten Förderer, sagt Graeber. „Das eherne Gesetz des Liberalismus besagt: Jede Marktform, jede Regierungsinitiative, die den Amtsschimmel bändigen und die Marktkräfte fördern will, resultiert in der Zunahme von Vorschriften, Verwaltungsarbeit und der vom Staat beschäftigen Bürokraten, weil Märkte sich nicht selbst regulieren (S. 14f.).

Bürokratie sei ohnedies ungerecht. Es gebe den Mythos, dass sie zu unpersönlichen und deswegen gerechten Ergebnissen komme. „Wie jeder weiß, der eine weiterführende Schule abgeschlossen hat, sind es gerade die Kinder aus besser verdienenden Schichten, die aufgrund der materiellen Mittel ihrer Familien am wenigsten auf finanzielle Unterstützung angewiesen sind. Sie wissen am besten, wie man sich in der Welt des Papierkrams bewegt, um sich die entsprechend benötigte Unterstützung zu beschaffen.“ (S. 31)

Das Buch mäandert vorwärts. Es bringt die Leserin oder den Leser auf neue Ideen. Und es ist ein Anstoß für eine zeitgemäße Bürokratietheorie.

Graeber, David:. Bürokratie. Die Utopie der Regeln. Stuttgart: KlettCotta, 2016. 329 S.,  22,95 [D], 23,60 [A]

ISBN 978-3-608-94752-6