Die Europafalle

Ausgabe: 2009 | 2

Innerhalb der EU-kritischen Bücher nimmt zweifellos die Stimme eines EU-Parlamentariers einen besonderen Stellwert ein, wirft aber zugleich die Frage auf, ob es sich dabei um politisches Kalkül oder konstruktiv gemeinte Kritik handelt. Der ehemalige Journalist Hans-Peter Martin (HPM) wurde 1999 von der SPÖ zum parteifreien Spitzenkadidaten für die Europawahl nominiert und ist seit damals Mitglied des Europäischen Parlaments. Nach der Wahl 2004 zog er mit seiner eigenen Liste und 14 Prozent der Stimmen wieder ins Europaparlament ein. 2009 hat er abermals kandidiert und mit dem Verkauf des hier besprochenen Buches seinen Wahlkampf finanziert. Er wolle, so die vielzitierte Begründung Martins, der „Hecht im Karpfenteich“ im EU-Parlament sein. Bei der Wahl am 7. 6. 2009 erreichte er 17,74 Prozent und somit 3 Mandate.

 

Was aber ist nun wirklich von einem EU-Abgeordneten zu halten, der behauptet, „die Europäische Union ist ein Verhängnis“ und sie verspiele Demokratie und Wohlstand. Vor allem versagt seiner Ansicht nach die EU dort, wo sie unverzichtbar wäre, denn transnationale Finanzströme und Wirtschaftsabläufe könnten nur transnational geordnet werden ebenso wie auch Umweltfragen nur grenzüberschreitend zu lösen seien.

 

 

 

Europa neu erfinden

 

Unter anderem hat Martin während seiner Zeit als Abgeordneter aufgedeckt, dass 46,8 Mio. Euro Steuergelder jährlich für Urlaubsreisen der EU-Beamten ausgegeben werden. 22.834 EU-Beamte der EU-Kommission und des Rates nutzten im vergangenen Jahr (2008) den Luxusparagraphen des Statuts für Europäische Beamte, wonach sie auf Kosten der Steuerzahler auf Urlaub in ihr Heimatland reisen können, samt Ehefrau und Kindern. Zu den drängenden Fragen hat aber für Martin die politische Elite seit vielen Jahren keine Antworten, geschweige denn Lösungen gefunden: Finanzspekulationen, Arbeitslosigkeit, Lohndumping, soziale Ungerechtigkeit, Gesundheit – alles Themen, für die man ernst zu nehmendes politisches Leadership bräuchte.

 

Und nicht zuletzt findet der laut Martin mit Zahlen belegte unendlich aufgeblähte Politikapparat in der Europäischen Union das Missfallen des wiedergewählten Mandatars. Der Autor fordert eine Besinnung auf die Volksherrschaft und er sieht v. a. durch das Internet eine breit zugängliche Möglichkeit für aktive Bürgerbeteiligung und Mitbestimmung, für Volksbefragungen und auch verbindliche Abstimmungen. Ebenso wie für Attac gilt auch für ihn: Europa muss neu erfunden werden. Was wir brauchen ist eine taugliche, demokratische und auch vom Souverän akzeptierte Vertragsgrundlage sowie gelebte Volksherrschaft.

 

 

 

 

 

 

 

Unprovinzieller Dezentralismus

 

Ein erstrebenswertes Ziel in Richtung Demokratisierung der EU wäre für Martin ein weltoffener regional verwurzelter „unprovinzieller Dezentralismus“ (S. 234). Natürlich wird seiner Ansicht nach viel von dem aufgeklärten Bürgerwillen abhängen. Hier scheinen aber durchaus Zweifel angebracht, ob die Menschen das wollen und dazu fähig sind.

 

Eine der Möglichkeiten, dass PolitikerInnen wieder mehr dem Gemeinwohl dienen anstatt den Parteien und den Lobbyisten, wäre für den Autor die Umstellung der Politikerbezüge in Form eines dreistufigen Gehalts: ein Grundeinkommen, zusätzlich eine variable individuelle Leistungszulage und eine Gemeinwohlprämie. Weitere Eckpfeiler einer Demokratisierung wären das Prinzip der umfassenden Transparenz, eine drastische Abrüstung des Politikbetriebes (sein Reduktionsziel lautet 50 Prozent) sowie ein ausgeprägtes Persönlichkeitswahlrecht.

 

Für Grundsatz- und Langzeitfragen sollte das Instrument der Volksabstimmung nach Meinung Martins zur Verfügung stehen, „in einer verwirklichten Internetdemokratie auch für einfache Gesetzesbeschlüsse wie etwa zum Rauchverbot“ (S. 256). Wichtig ist auch eine politische Entscheidungsfindung so nah wie möglich beim Bürger: „Die Union dürfte nur tätig werden, wenn sie ein Problem wirklich besser lösen kann als die Mitgliedsstaaten.“ (S. 257) Die notwendige „Energierevolution“ wäre für Martin ein Thema, bei der die BürgerInnen über verschiedene Konzepte verbindlich abstimmen sollten.

 

Im Laufe der Lektüre wird deutlich, dass HPM eigentlich ein Befürworter Europas ist. Die Kluft zwischen dem Potenzial und der EU-Wirklichkeit wird von Martin aus einer Innenperspektive durchaus plausibel dargestellt. Bemerkenswert auch, dass er mit seiner Kritik und seinen Vorschlägen nicht wartet bis zum Ende seiner Politikkarriere, wie wir dies von einigen anderen Volksvertretern kennen – etwa Franz Fischler oder Heiner Geißler. Seine Hoffnungen in eine funktionierende Internetdemokratie sind aber übertrieben und wohl bis auf weiteres unrealistisch. A.A.

 

Martin: Hans-Peter: Die Europafalle. Das Ende von Demokratie und Wohlstand. Mitarb.: Martin Ehrenhauser. München (u. a.): Piper, 2009. 283 S., € 18,95 [D], 19,50[A], sFr 25,40

 

ISBN 978-3-492-04671-8