Zweidrittelgesellschaft. Spalten, splittern, solidarisieren?

Ausgabe: 1988 | 1

Österreich war und ist - trotz gegenteiliger Behauptungen wechselnder politischer Akteure unterschiedlicher Gesinnung - keine "Insel der Seligen". Die im Vergleich mit anderen Industrienationen im Ringen um die Vollbeschäftigung strapazierte Metapher erweist sich bei einem verengenden Blick auf die Arbeitslosenstatistik nicht weniger stichhaltig als das Wort von der Zweidrittelgesellschaft, dem Politiker, Unternehmer wie Gewerkschaftler unverdrossen ihre Erfolgsbilanz entgegenhalten. 1988 wird die Arbeitslosenrate die 6%-Hürde nur wenig übersteigen und selbst zunehmende Sätze, die für die nächsten Jahre erwartet werden, nehmen sich vergleichsweise noch wie Triumphe weitsichtiger Sozialpolitik aus.

Zum Vergleich: In der BRD liegen die Zahlen um 9% und die Wende-Manöver auf dem zunehmend stürmischen Meer der Ausgegrenzten rücken den versprochenen Erfolg in weite Ferne. Der einleitende Artikel von Wolfgang Fach legt überzeugend zwei Bruchlinien im sozialen Gefüge frei: Zum einen führt die von Unternehmen und Gewerkschaften gleichermaßen favorisierte Koppelung von bezahlter Erwerbstätigkeit und sozialer Absicherung zur (sich vertiefenden) Spaltung der Gesellschaft; zum anderen sind die von unterschiedlicher Seite propagierten Wende-Appelle, die auf - wie auch immer geartete - Freiheit setzen, "Splitter-Praktiken", die eine wachsende Minderheit auf Kosten der Mehrheit ausgrenzen. Die Auswirkungen auf Frauen, Behinderte und Jugendliche und ein Vergleich mit der Sozialpolitik in der BRD sind Gegenstand weiterer Beiträge dieses Bandes, der nicht nur eine kritische Analyse der gegenwärtigen Situation, sondern abschließend auch Perspektiven einer neuen Solidarität bietet.

Die von Erich Kitzmüller skizzierte Strategie des "Fußbreits Boden für jede und jeden", fordert ein "allgemeines Grundeinkommen auf einem Niveau kultureller Lebensfähigkeit", das die Möglichkeit kreativer, selbstbestimmtet Eigentätigkeit einschließt. Durch die Einführung einer Wertschöpfungs- und einer Ressourcensteuer könnte menschliche Arbeit den ihr gebührenden, zentralen Stellenwert wiedererlangen. Die Lohnarbeit wie bisher zur zentralen Einnahmequelle des Staates zu machen, ist nicht nur antiökologisch, sondern auch antisolidarisch. Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich hält am überholten Modell fest, ist, genau betrachtet, eine verbreitete Mangelstrategie, die sich damit begnügt zu reparieren und zu kompensieren, wo grundsätzlich Vermeidung und Änderung gefordert sind.

Der Weg zu einer wirklich solidarischen Gesellschaft führt nur über Bewußtseinsbildung und Konfliktbereitschaft. Die (Zweidrittel-)Mehrheit ist aufgerufen, sich nicht hinter dem zunehmend brüchigen Wall vermeintlicher Sicherheiten zu verschanzen. Wie im Bereich der wachsenden Sorge und des (zu späten?) Engagements für die Natur gilt es, auch im Sozialbereich Alternativen zu wagen, die mehr sind als oberflächliche Korrekturen. Es gilt, ein soziales "Zwentendorf“ zu realisieren!

Zweidrittelgesellschaft. Spalten, splittern - oder solidarisieren? Ehrenfried Natter, Alois Riedlsperger (Hrsg.). Wien (u. a.): Europaverlag 1988. 230 S. (Soziale Brennpunkte; 13) DM 24,-/ sfr 18,10/ öS 168,-.