Zukunft ohne freien Willen

Ausgabe: 2017 | 3
Zukunft ohne freien Willen

Menschen sind etwas Besonderes. Heute beherrscht der Homo sapiens die Welt aufgrund einer speziellen Fähigkeit: Weil er ein intersubjektives Sinngeflecht erzeugen könne, ein Geflecht aus Gesetzen, Kräften, Wesenheiten und Orten, die nur in der gemeinsamen Fantasie der Menschen existieren. „Dieses Geflecht ermöglicht es einzig und allein den Menschen, Kreuzzüge, sozialistische Revolutionen und Menschenrechtsbewegungen zu organisieren.“ (S. 207) Auf der Basis dieser Fähigkeiten setzt die Menschheit Schritt um Schritt.

Mit dem Humanismus haben wir einen großen Sprung getan. Wir hatten und haben die Erfahrung von Hunger, Krankheit und Krieg. Dem setzen wir ein anderes Programm entgegen. Zum einen streben wir nach ewiger Jugend, nach dem Sieg über die Krankheit, das Altern, den Tod. Zum zweiten suchen wir das Glück. Versuchen es durch bessere Organisation unserer Gesellschaft, durch neue Techniken und durch biochemische Substanzen zu erreichen. Und weil wir Glück organisieren wollen, bestimmen wir immer genauer, was wir wann und wo mit großer Erfolgsaussicht tun sollten, zum Beispiel einen potenziellen Partner finden. Und wir erheben uns zu Göttern, die Leben schaffen nach eigenen Bauplänen, neue Lebensformen, die uns nützen sollen.

Wir versuchen Unsterblichkeit, Glück und Göttlichkeit zu erreichen. Wie sich das genau anfühlen wird, wissen wir nicht. Wir rasen aber auf das große Unbekannte zu, sagt Yuval Noah Harari. Das werden wir nicht als Einzelne tun, sondern als Kollektiv. Auch wenn vielen die Richtung nicht gefällt, niemand weiß, „wo sich die Bremse befindet“. Und sollte es uns irgendwie doch gelingen, auf die Bremse zu treten, werden unsere Wirtschaft samt unserer Gesellschaft zusammenbrechen. Denn in den humanistischen Traum wird immer mehr investiert. (S. 75)

Im 21. Jahrhundert kommen wir nach Harari an den Punkt, wo der Versuch, die neue menschliche Agenda zu verwirklichen, eine neue posthumanistische Technologie entfesselt.  Die erste große Erzählung, die auch unserem humanistischen Traum zugrunde liegt, ist die Ansicht, dass uns keine äußere Instanz mit irgendeinem fertigen Sinn versorgt. Stattdessen sollte jeder einzelne Wähler, Konsument und Zuschauer seinen freien Willen dazu nutzen, um nicht nur für das eigene Leben, sondern für das gesamte Universum Sinn zu erzeugen. In unserem Streben als Menschheit, besser und perfekter zu werden, haben wir viele Erkenntnisse gesammelt. Darunter sind auch biochemische Erkenntnisse, die sehr deutlich in Frage stellen, ob das freie Individuum freie Entscheidungen trifft. Arbeiten wir nicht an der Perfektion, sondern an der Selbstabschaffung? Mehr noch: Können Demokratie, der freie Markt und die Menschenrechte bestehen, wenn wir den freien Willen zur Fiktion erklären? (S. 410f.)

Hariri fragt genauer, was uns als Menschen ausmacht. Unter anderem auf der Basis wichtiger verhaltenswissenschaftlicher Erkenntnisse erklärt er, dass auch das „Ich“ eine erfundene Geschichte, ein Sinngeflecht ist. „Jeder von uns verfügt über ein ausgeklügeltes System, das die meisten unserer Erfahrungen wegwirft, nur ein paar ausgewählte Exemplare behält, die mit Stückchen aus Filmen, die wir gesehen haben, Romanen, die wir gelesen haben, Reden, die wir gehört haben, und unseren eigenen Tagträumen vermengt und aus all diesem Wirrwarr eine scheinbar kohärente Geschichte darüber strickt, wer ich bin, woher ich komme und wohin ich gehe.“ (S. 408) Was aber bleibt vom Ich - ohne freien Willen? Fliegt unsere Erfindung des Ich auf?

Was bedeutet dies für einen anderen Bereich, in dem wir Menschen auf unserer Suche nach Perfektion immer weiter nach vorne drängen: Für die technische Perfektionierung des Lebens? „Der Techno-Humanismus hat noch mit einer weiteren schrecklichen Bedrohung zu kämpfen. Wie alle humanistischen Sekten huldigt er dem menschlichen Willen und betrachtet ihn als den Nagel, an dem das gesamte Universum hängt.“ Keine Sorge, wenn sich die technischen Möglichketen dramatisch ausweiten: Es sind doch unsere Wünsche, die darüber entscheiden, welche geistigen Fähigkeiten wir entwickeln, und damit darüber bestimmen, wie unser Geist in Zukunft aussieht. Was aber würde geschehen, wenn der technische Fortschritt es ermöglicht, auch unsere Wünsche umzumodeln und zu manipulieren? „Wir werden mit solchen Technologien niemals zurechtkommen, solange wir glauben, dass der menschliche Wille und die menschliche Erfahrung die höchste Quelle von Autorität und Sinn sind.“ (S. 495)

Auch in den Wissenschaften erleben wir einen Sprung, von dem wir uns versprechen, den Menschen vorwärts zu bringen. Es geht um eine einzige übergreifende Theorie, die alle wissenschaftlichen Disziplinen von der Musikwissenschaft über die Ökonomie bis zur Biologie vereint. Harari spricht von einem „Dataismus“. „Glaubt man dem Dataismus, so sind Beethovens Fünfte Symphonie, König Lear und das Grippevirus nur drei Muster des Datenstroms, die sich mit den gleichen Grundbegriffen und Instrumenten analysieren lassen.“ (S. 498) Oder, um die dataistische Weltsicht –  übersetzt durch Harari, zu Wort kommen zu lassen: „Ja, Gott ist ein Produkt der menschlichen Fantasie, aber die menschliche Vorstellungskraft ist ihrerseits ein Produkt biochemischer Algorithmen.“  Intelligenz koppelt sich hier vom Bewusstsein ab, nicht-bewusste aber hochintelligente Algorithmen könnten uns dann bald besser kennen als wir uns selbst.

Zukunftsforschung

Bei Amazon kaufenYuval Noah Harari: Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen. München: C.H.Beck,  2017. 576 S., € 25,70 [D], 26,50 [A] ; ISBN 978-3-406-70401-7