Wieviele Katastrophen braucht der Mensch?

Ausgabe: 1987 | 4

In diesem Buch geht es um nicht weniger als ums Überleben, um die weitere Existenz der Menschheit. Die einzelnen Autoren - die hier zusammengestellten Beiträge erschienen allesamt in der Zeitschrift »Psychologie heute- - stellen sich der Frage, ob überhaupt und inwieweit wir aus Katastrophen lernen können. Philosophisch-pädagogisch nähert sich Peter Sloterdijk dem Thema in seinem Entwurf einer Katastrophendidaktik. Das Katastrophale wird in diesem Modell zur argumentativen Kraft, zur Botschaft, die einen Lernprozess auslöst. Einfach ist diese Schule allerdings nicht. In vier Punkten äußert Sloterdijk selbst Zweifel, dass wir unser Lernpensum erfüllen können.

  1. Welche Größenordnung muss eine Katastrophe erreichen, bis von ihr der erwartete Erkenntniszwang ausgeht? Wann erreicht sie die Unbelehrbaren, jene, die gewissermaßen »katastrophenfest« sind.
  2. Ohne praktische Erfahrungen gibt es kein überlebenstüchtiges Verstehen. (Erst durch Schaden wird man klug.) Deshalb ist die Menschheit zur »Autodidaktik auf Leben und Tod verurteilt und hätte sich selbst aus einer Zwangsgemeinschaft der Dummheit in eine Ökumene der Intelligenzen zu transformieren«.
  3. Um Katastrophen zu ermöglichen, ist die Konstruktion eines Täters von entscheidender Bedeutung. Katastrophen stellen sich uns jedoch meist als Ereignis und nicht als Handlung dar.
  4. Die letzte Anmerkung gilt dem Verhältnis von Wahrheit und Katastrophe selbst. Wenn durch Katastrophen die Wahrheit ans Licht kommt, ist erst der reale Weltuntergang die vollkommene Wahrheit: »Nur das vollzogene Desaster wäre der apokalyptische Beweis der Wahrheit ... , nur in glänzender Selbstvernichtung hätte die Menschheit ihr Lernziel erreicht.«

Die eigentliche Katastrophe ist für Sloterdijk die Tatsache, dass unsere Gottwerdungsfähigkeit monströse Ausmaße angenommen hat und es nie mehr eine Situation geben könnte, »in der die Menschheit selbstvernichtungsunfähig wäre«, Christina Thürmer-Rohr sieht im Bild vom Menschen als lernfähiges Wesen, »das Konsequenzen aus Fehlern und selbstangestellten Katastrophen ziehen kann«, einen Stoff zur Parodie. »Die Besessenheit vom Zugriff in die Zukunft ... hat den Menschen gerade nicht friedlichen oder harmlosen Paradiesen, sondern der Ausrottung und Selbstausrottung, den Gewalttaten der Erkenntnis ... nähergebracht.« Wir sollten stattdessen lernen, in der Gegenwart zu leben, nur in dieser hätten wir die Möglichkeit der Einwirkung. Im Glauben an sich selbst sieht Jonas Salk (Erfinder des Impfstoffs gegen Kinderlähmung) die größte Hoffnung. Die genetische Ausstattung macht den Menschen als Schöpfer seiner eigenen Evolution möglich, der agiert, um zu überleben. Konkrete Vorschläge zur Reduzierung des Katastrophenrisikos (organisatorische Dezentralisierung, Stärkung der Selbsthilfekompetenz, Rückbesinnung auf soziale Produktivität kleiner Einheiten u.a.m.) macht Johano Strasser, Mitglied der SPD-Programm- und Grundwertekommission. Die weitere technische Perfektionierung ist im Rahmen des Modells kein wirksamer Weg zur Bewältigung unseres Sicherheitsproblems. Nicht zuletzt sei noch auf die radikalen Äußerungen von Günther Anders hingewiesen, der jede Gewalt gegen den politisch organisierten Untergang für erlaubt hält. Wir müssen so handeln, als wäre die Wahrscheinlichkeit groß, den Atomstaat aufzuhalten. Jene, die sich dafür nicht einsetzen, nennt er »Analphabeten der Ang~«. Wir haben unsere Mitmenschen zur Angst zu erziehen, die Aktionen befeuert und Widerstand ermöglicht. »Niemals habe ich versucht, das zu tun, was man seicht Hoffnung machen nennt, Das Ergebnis wäre zu gering, nämlich bloße Stimmung.«   Es ist hier nicht der Platz, neuerlich die von Anders ausgelöste Diskussion fortzuführen. Verwiesen sei auf Günther Anders »Notstand und Notwehr« (natur 12/1986, S. 29-34) und die Reaktion darauf (in natur 1 und 2/1987). Diese notwendige Auseinandersetzung zeigt nicht nur die Brisanz der Gewalt-Debatte (nach den Frankfurter Startbahn-Ereignissen umso aktueller), sondern wirft auch einen Blick auf die Frage, ob Hoffnung möglich oder nur Selbsttäuschung ist. Die meisten Beiträge des oben besprochenen Buches sind zurückhaltend optimistisch oder bewegen sich in Bahnen der New-Age-Wende (Capra, Dürr, Sheldrake). Wir sollten die Paradiese auf sich beruhen lassen und ans Heute denken, denn wir haben nur diese Welt.

Wieviele Katastrophen braucht der Mensch? Thema: Zukunft. Hrsg. u, d. Red. Psychologie heute. Weinheim; Basel: Beltz, 1987.166 S. (Psychologie-heute-Taschenbuch )