Wie man kluge Entscheidungen anstößt

Ausgabe: 2009 | 3

„Nudge“ bedeutet Schubs, kleiner Anstoß, und ist der Titel des Buchs von Richard H. Thaler und Cass R. Sunstein, das nun auf Deutsch vorliegt. Die Autoren wollen, dass die Bürger Entscheidungsfreiheit über die Dinge ihres Lebens haben. Sie argumentieren aber, dass diese freien Entscheidungen nicht immer vernünftig sind. Deswegen solle man doch bitte mithelfen, dass die richtigen Entscheidungen getroffen werden. „Entscheidungsarchitekten“ sollen kleine „Nudges“ geben, ohne die Entscheidungsfreiheit zu beeinträchtigen. Zwei Beispiele: In Schulbuffets soll Obst besser positioniert aufgestellt werden als die süße Nachspeise. Die Wahlfreiheit bleibt, trotzdem wird der Obstkonsum steigen. Bürger oder Mitarbeiter sollen in bestimmte Zukunftsvorsorgen automatisch eingeschrieben werden, sie können aber austreten. Das führt zu wesentlich mehr Vorsorge, als wenn jeder einzelne durch einen aktiven Akt in das Vorsorgesystem selbst einsteigen müsste.

 

Die „Nudges“ in dem Buch von Thaler und Sunstein sind sehr bescheiden. Man legt eine ganze Reihe von kleinen bis mittleren Ideen vor, Menschen vor Fehlentscheidungen zu bewahren. Diese Bescheidenheit steht in starkem Kontrast zu den starken Paradigmen, die sonst hinter vergleichbaren Vorschlägen stehen. Das dürfte auch erklären, warum das Buch in den USA und Großbritannien, wo es seit etlichen Monaten vorliegt, sehr ausführlich und überwiegend positiv diskutiert wurde. Die wirtschaftliche Krise hat zumindest in der westlichen Welt nicht zu einer Nachfrage nach großen Erlösungsideologien geführt. Sie scheint das Gegenteil bewirkt zu haben. Mit dem Niedergang kollektivistischen Denkens, vor allem seit dem Ende des Kommunismus in Osteuropa, schien es, als ob die konkurrierende große Erzählung Recht gehabt hätte. Diese war geprägt von einem liberalen Denken, das in seinem Herzstück, der neoklassischen Ökonomik, den vernünftigen Homo oeconomicus präsentierte. Diese zuletzt allein dominierende große Erzählung hat nun bei der Vorhersage (der Möglichkeit) der gegenwärtigen Wirtschaftskrise weitgehend versagt. Kein Wunder also, dass nach zwei Enttäuschungen nun die bescheidenen Vorschläge im Mittelpunkt stehen.

 

Thaler und Sunstein grenzen sich denn auch konsequent von den großen Erzählungen ab. Nein, man wolle keine Übertragung von Entscheidungskompetenz von den Individuen an kollektive Gruppen oder den Staat. Die Autoren teilen die Bedenken, dass gewählte Offizielle und Bürokraten ihre eigenen Interessen verfolgen und sich von Lobbygruppen beeinflussen lassen (vgl. S. 22) Andererseits gebe es nun einmal Regeln, und in diese den einen oder anderen Schubser in die richtige Richtung einzubauen, könne nicht falsch sein. Das sei jedenfalls besser als staatliche Verbote und Befehle.

 

 

 

Entscheidungsarchitekten

 

Dem Konzept des Homo oeconomicus halten sie bis zu Seite 99 ihres Buches Argument um Argument entgegen. Menschen tendieren bei Entscheidungen zum Status quo, auch wenn Änderungen vorteilhaft wären. Sie fürchten irrationalerweise den Verlust von 100 Euro mehr, als sie sich über den Gewinn von einer höheren Summe freuen würden. Sie treffen intuitive Entscheidungen, die rational nicht richtig sind. Sie folgen der Herde, auch wenn diese falsch liegt. Bestimmte Leute, zum Beispiel mit geringerer Bildung, entscheiden öfter irrational als andere. Sie dem Spiel des Marktes zu überlassen führt dazu, dass sozial benachteiligte Menschen in den USA im Durchschnitt auch noch mehr Gebühren bei Kreditvertragsabschlüssen zahlen als andere. Also sagen Thaler und Sunstein, dass hier der Staat (sie sprechen oft von „Entscheidungsarchitekten“) eingreifen soll,  indem er den Konsumenten unter die Arme greift. Der Staat solle unrationales Verhalten nicht verbieten, aber helfen, falsche Entscheidungen zu vermeiden.

 

Die Autoren nennen das Ganze „paternalistischen Liberalismus“ weil durchaus die Entscheidungen der Einzelnen beeinflusst werden, ohne aber die Auswahlfreiheit in Frage zu stellen.

 

Während das Buch „Nudge“ einfach lesbar ist und sich an „Entscheidungsarchitekten“ aller Art wendet, ist der Sammelband über Jon Elster sozialwissenschaftliche Literatur in entsprechender Diktion. Abgesehen von der Diktion passen die Bücher aber gut zusammen. Auch Jon Elster beteiligt sich am Abbau der Vorherrschaft der großen Erzählungen. Vor 30 Jahren war er einer der führenden amerikanischen Sozialwissenschaftler, die den Marxismus und damit eine der größten kollektivistischen Theorien zerlegte. Elsters Arbeit war umso bedeutender, als er das Projekt mit Sympathie für Marx begonnen hatte. Er entwickelte eine Kritik an der Methodik des Marxismus und versuchte, die Fragestellungen in neuer Form, ausgehend von einem methodischen Individualismus neu zu formulieren. Als Problem stellte sich aber heraus, dass die Kritik an der Methodik des Marxismus sehr plausibel war, die Neuformulierung aber wenig überzeugend ausfiel und die Bemühungen in diese Richtung seit zehn Jahren eingestellt scheinen.

 

Elster blieb nach dem Ende seiner Beschäftigung mit dem Marxismus der methodische Individualismus, auf dessen Weiterentwicklung er sich konzentrierte. Diese methodische Grundannahme ist das Herzstück der zweiten großen Erzählung der vergangenen Jahrzehnte, der neoklassischen Ökonomik. Elster sorgt aber auch unter den Neoklassikern nun genauso für Unruhe, wie er sie unter Marxisten verursachte.

 

Zum einen trat er in einen inhaltlichen Konflikt mit einem der wichtigsten Denker der Ökonomik, Gary Becker, ein, obwohl er doch die gleiche Grundidee zu teilen schien. Becker hatte versucht nachzuweisen, wie gesellschaftliche Änderungen (wie z. B. niedrigere Geburtenraten etc.) unbeabsichtigte Ergebnisse vernünftigen Handelns von Individuen sind (wie etwa die Entscheidung für längere Ausbildungen). Becker redet also über durchschnittliche Raten und „durchschnittliche“ Interessenslagen. Elster meint hingegen, dass man Einzelfälle und die sie hervorbringende Kausalkette vom Individuum her erklären könne. Elster ist der Ansicht, dass das Individuum als Homo oeconomicus nicht wie bei Becker als Mensch mit Präferenzen, der mit Restriktionen zu tun hat, zu verstehen sei. Das werde dem Menschen nicht gerecht, vielmehr müsse man von „desires“, „beliefs“ und „information“ ausgehen. „Desires“ sind die Wünsche, „beliefs“ die Annahmen über die Realität und „information“ das Wissen über die Umwelt. Wünsche hängen von den Annahmen über die Welt, diese von den vorliegenden Informationen ab. Claus Offe fasst Elster so zusammen: „Erstens sind für ihn die Menschen in ihrem Handeln, Denken und Wünschen oft kurzsichtig, egoistisch, von Emotionen getrieben, suchtanfällig und willensschwach; sie neigen zu adaptiven Präferenzbildungen und opportunistisch getrübten kognitiven Fehlleistungen bei der Wahl ihrer `beliefs´.“ (S. 37) Elster will also beim Methodischen Individualismus bleiben, das Individuum, vom dem er ausgeht, ist aber rational in einem anderen Sinn als der Homo oeconomicus.

 

Es sei noch erwähnt, dass Elster selbst versuchte, eigene Ansätze des methodischen Individualismus zu schaffen. Er begann nach „sozialen Mechanismen“ immer wiederkehrende Muster einzelner Kausalketten vom Individuum zum Geschehen zu suchen. Seine Studien zur Entwicklung der Verfassungen in Osteuropa nach dem Ende des Kommunismus und zu lokaler Gerechtigkeit zeigen aber die Grenzen dieses Ansatzes. In dem von Ingo Pies und Martin Leschke herausgegebenen Sammelband „Jon Elsters Theorie rationaler Bindungen“ wird die Arbeit Elsters kritisch dokumentiert. Das Urteil ist skeptisch: Man könne viel von ihm lernen, „wenn man darauf achtet, wie er sich mit dem Ausprobieren unkonventioneller Fragestellungen immer wieder selbst in die Klemme bringt“ (S. 28), seinem Forschungsprogramm wird ein „Scheitern“ bescheinigt (S. 233).

 

Befragt man nun beide Bücher nach ihrer Relevanz für die Zukunftsgestaltung, so kann man aus der Darstellung und Kritik der Arbeit von Jon Elster viel über die methodischen Fehler der großen Erzählungen lernen. Thaler und Sunstein wollen auf jeden Fall die negativen praktischen Folgen der großen Erzählungen vermeiden. Sie vermeiden einen starken Staat, der den Individuen die Entscheidungen abnimmt. Und sie vermeiden dem Mythos aufzusitzen, dass der Markt allein für Gerechtigkeit sorgt. Dazwischen bleibt Platz für bescheidene Stubser zum Guten. Ein neuer Realismus, der aufgrund der Erfahrung mit den großen Erzählungen der jüngeren Vergangenheit sehr sympathisch ist. S. W.

 

Thaler, H. Richard; Sunstein, Cass R.: Nudge. Wie man kluge Entscheidungen anstößt. Berlin: Econ, 2009. 389 S. € 22,90 [D], 23,60 [A], sFr 40,10

 

ISBN 978-3-430-20081-3

 

 Jon Elsters Theorie rationaler Bindungen. Hrsg. v. Ingo Pies … Tübingen: Mohr Siebeck, 2008. 241 S.

 

(Konzepte der Gesellschaftstheorie 14) € 39,- [D],

 

40,25 [A], sFr 68,25