Wie der Zufall die Zukunft unvorhersehbar macht

Ausgabe: 2017 | 4
Wie der Zufall die Zukunft unvorhersehbar macht

Buchcover von Florian AignerGibt es den Zufall? Hat nicht alles eine Ursache in unserer Welt in Zeiten nach der Aufklärung? Mit solchen Fragen ist man konfrontiert, wenn man sich das neue Buch von Florian Aigner zu Gemüte führt. Vorweg: Das Buch ist sehr gut lesbar, was bei jemandem, der über theoretische Quantenphysik promoviert hat, nicht unbedingt zu erwarten ist.

Pierre-Simon Laplace forschte im 18. Jahrhundert in Frankreich an der Akademie der Wissenschaften. Berühmt wurde er für den nach ihm benannten Dämon. Dieser Laplacesche Dämon ist, so das Gedankenexperiment, in der Lage, unendlich viel Information aufzunehmen und unendlich schnell zu rechnen. Dieser Dämon wüsste dann alles über die Gegenwart und die Vergangenheit und könnte so, in einer Welt von Ursache und Wirkung, auch alles über die Zukunft sagen. Der Laplacesche Dämon ist die radikalste Formulierung des Wissenschaftsbildes der Aufklärung im 18. Jahrhundert.

Aigner nimmt die Idee als Ausgangspunkt. „Wie kann ein berechenbares Universum so etwas wie Zufall überhaupt zulassen? Gar nicht, haben viele Leute vor hundertfünfzig Jahren noch gesagt, und den Zufall als bloße Illusion abgetan. Die moderne Wissenschaft eröffnet uns heute allerdings einen etwas differenzierteren Blick auf diese Frage: Die Chaostheorie erklärt, wie dramatisch sich winzige Zufälle auswirken können, und die Quantenphysik sagt uns, dass der Zufall in der ungewohnten Welt der winzig kleinen Teilchen eine ganz besondere Bedeutung hat.“ (S. 8) Damit steckt Aigner früh in seinem Buch ab, welche Wissenschaftszweige für die Frage nach dem Zufall besonders interessant sind.

Zuerst wendet sich Aigner der Chaostheorie zu. Wenn man ein Zündholz ausbläst, bildet der Rauch im Luftzug immer neue Kräusel oder andere Formen. Diese Turbulenzen haben eine derart hohe Komplexität, dass sie nicht einmal für einige Sekunden vorhersagbar sind. Der Rauch des Zündholzes ist ein „chaotisches System“. Bemerkenswert ist aber auch, dass das scheinbar aus großen und trägen Himmelskörpern bestehende Universum ebenfalls ein chaotisches System ist. Die vielen aufeinander wirkenden Himmelskörper haben unterschiedliche Auswirkungen auf die Bahnen vieler anderer Sterne und Planeten, sodass nur geringste Falschinformationen über Bahn, Ort und Größe von Sternen dem gesamten Universum eine andere Richtung geben können, als wir vorberechnen würden. „Alles, was wir tun oder nicht tun, kann einen Einfluss auf alles andere im Universum haben – aber bloß auf rein zufällige, unvorhersehbare und unplanbare Weise.“ (S. 49)

Ein Uranatom ist ein radioaktives Element, es kann jederzeit zerfallen. Trotzdem, auch wenn wir alles über ein vor uns liegendes Uranatom wissen, können wir diesen Zeitpunkt nicht bestimmen. (Wir können nur die Wahrscheinlichkeit nennen, welcher Anteil von vielen Millionen Uranatomen in einer bestimmten Zeit zerfallen wird.) In der Quantenphysik reden wir vom Quantenzufall. Dieser kommt zum Zeitpunkt von Messungen ins Spiel. Ein Quantensystem zu messen, bedeute, es in Kontakt mit etwas Größerem zu bringen: mit einem Messgerät, mit uns selbst oder mit der Welt.

Auch die physikalischen Erkenntnisse der Thermodynamik sind für uns interessant, wenn wir den Zufall verstehen wollen. Im Gegensatz zur Energie, die nach den Gesetzen der Thermodynamik immer gleich bleiben muss, nimmt die Entropie in einem abgeschlossenen System laufend zu. Anders gesagt: „Am Ende gewinnt die Unordnung.“ (S. 51)

„Ist es denkbar, dass wir irgendwann eine Rechenmaschine bauen, mit der man die Zukunft vorhersagen kann? Newton und seine Zeitgenossen hätten das vielleicht für möglich gehalten – heute wissen wir, dass es solche Maschinen niemals geben wird.“ (S.111) Wir könnten ziemlich sicher sein, dass die Grenzen von Chaostheorie und Quantenphysik auch von den besten Rechenmaschinen nicht überwunden werden, schreibt Aigner.

Der Autor reflektiert  dann über die Bedeutung des Zufalls. Ausführlich widmet er sich der Evolution („beruht auf unzähligen zufälligen Ereignissen“ S. 141), kürzer dem Thema Wallfahrten („Wenn man ausreichend viele kranke Leute an einem Ort versammelt, dann werden manche von ihnen auf unerklärliche Weise gesund.“ S. 194).

Gegen Ende des Buches entsteht beim Leser oder der Leserin trotz aller Solidität der Argumentation ein Unbehagen. Die beschriebenen Phänomene als Abhandlung des „Zufalls“ zu verhandeln, ist sicher nicht an den Haaren herbeigezogen, aber immer klarer wird, dass die besprochenen Erkenntnisse sehr unterschiedliche Bezüge haben: Komplexität, Unberechenbarkeit, Unkontrollierbarkeit, Unmessbarkeit. Alle Phänomene greifen den Laplaceschen Dämon an, die Idee, die Zukunft kennen zu können. Aber konstituieren sie das, was wir Zufall nennen?

Genau darauf antwortet der Autor im letzten Kapitel und das in einer Weise, die schlüssig ist. Denn er stutzt den Begriff „Zufall“ zurecht. „Nicht wir Menschen sind da, weil uns der Zufall hervorgebracht hat, sondern der Zufall ist da, weil wir Menschen ihn hervorgebracht haben. Von einem zufälligen Ereignis kann man nur sprechen, wenn es jemanden gibt, der dieses Ereignis als zufällig empf-indet.“ (S. 228) Und schließlich kommt Aigner zu dem Satz: „Zufall bedeutet, dass etwas Unvorhergesehenes passiert, über das man eine Geschichte erzählen kann.“ (S. 239). Dann ist der Zufall überall, die ganze Zeit.          

Bei Amazon kaufenAigner, Florian: Der Zufall, das Universum und du. Wien: Brandstätter, 2017. 247 S., € 22,90 [D, A] ISBN 978-3-7106-0074-6