Welt AG und Weltgehirn

Online Special
Welt AG und Weltgehirn

goreWährend vorangegangene Publikationen Al Gores wie „Eine unbequeme Wahrheit“ (2006) und „Wir haben die Wahl“ (2009) auch hierzulande breit rezipiert wurden, fand sein aktuelles Buch bislang nicht die gebührende Resonanz. Ganz zu Unrecht, denn Gore gelingt es auf beeindruckende Weise, zentrale Herausforderungen unserer Zeit präzise zu benennen und zudem deutliche Handlungsempfehlungen zu geben. Sechs Kräfte nimmt er dabei in den Blick: Die „Welt AG“ zeichnet er als zunehmend integriertes, „ganzheitliches Gebilde“, das an der „ungesunden Konzentration auf kurzfristige Ziele“ (S. 27) und der zunehmenden Schwächung demokratischer Willensbildung leidet. „Outsourcing“ und „Robosourcing“ seien die treibenden Faktoren der ökonomischen Entwicklung.

Abschnitt 2 („Das Weltgehirn“) hat den „revolutionären und sich rasant beschleunigenden Wandel der globalen Kommunikation“ zum Thema. Von der „gemeinsamen Einsamkeit“ der Smartphone-User, dem Aufstieg von „Big Data“, der „Firewall-Politik“ totalitärer Systeme, aber auch vom Aufschwung des Internet-Journalismus und einer grundlegenden Neuorientierung des Bildungswesens durch „Online-Dienste“ ist die Rede. Trotz der Türken eines „cyberfaustischen Pakts, der uns im Internet grenzenloses Wissen und weltliche Vergnügungen verspricht “ (S. 109), ist Gore davon überzeugt, dass „das Weltgehirn einen Einigungsdruck mit sich bringt, der zur Überwindung nationalstaatlichen Denkens und zur Herausbildung globaler Entscheidungsstrukturen beitragen wird. Eben darum geht es in dem mit „Machtfragen“ überschriebenen 3. Kapitel. Von Automatisierung der Kriegsführung, von Machtverschiebung „West nach Ost“, von der zunehmend geschwächten (aber letztlich doch alternativlosen?) Rolle der USA bis hin zur Gestaltungsmacht multinationaler Konzerne und zivilgesellschaftlicher Akteure reicht das Themenspektrum. Und die EU? Gore scheut sich nicht von einem „Konstruktionsfehler“ zu sprechen und hält das Scheitern des Projekts für möglich. Die öko-sozialen Folgen einer wachstumsorientierten Welt AG verhandelt Gore unter dem Titel „Auswüchse“ (Abschnitt 4): die Erschöpfung der Ressourcen oder das Wachstum der Städte sind nur einige der diskutierten Themen. Neben der „Neuerfindung von Leben und Tod“ (Kapitel 5) gilt die besondere Aufmerksamkeit des Autors dem Klimawandel („Am Abgrund“, Kapitel 6). Gore diskutiert politische Strategien zur Forcierung Erneuerbarer Energien und zum Ausbau „intelligenter Stromnetze“ und spricht sich dezidiert gegen CCS-Verfahren, das Festhalten an der Atomenergie und Geo-Engineering-Projekte aus.

Letztlich, so Gore, sind es nicht Fragen der technologischen Entwicklung, sondern Werthaltungen, die über unseren weiteren Weg entscheiden. Wird es gelingen den Kapitalismus zu zähmen und demokratische Strukturen zu stärken? Im Widerstreit von „Welt AG“ und „Weltgehirn“ setzt Gore auf die „Wiederherstellung unserer Fähigkeit, sich in allgemein zugänglichen Foren, klar, offen und ehrlich über die schwierigen Entscheidungen auszutauschen, die wir zu treffen haben“ (S. 489). Die Wiederentdeckung des Politischen, das sich v. a. in einem breiten, weltumspannenden Engagement in internetbasierten Foren artikuliert, könnte unser Denken und Handeln verändern, die „Summe der Vernunft stärken“ und somit nach und nach zur „Zurückweisung vergifteter Trugbilder“ führen. Dass der Autor in diesem Kontext seinem Land eine besondere Rolle und Verantwortung beimisst, ist nicht chauvinistischer Attitüde, sondern einer pragmatischen, realpolitischen Perspektive geschuldet. Ein kenntnisreicher, differenzierter und letztlich auch ermutigender Blick auf wahrscheinliche, mögliche und wünschenswerte Zukunftspfade. Es gilt, so Gores Botschaft, die Zukunft zu entscheiden.

Walter Spielmann     

Al Gore: Die Zukunft. Sechs Kräfte, die unsere Welt verändern. München: Siedler, 2014. 624 S.,€ 27,80 [D], 28,60 [A], sFr 41,70 ; ISBN 978-3-8275-0042-7