Warum keine Abrüstung? Die Strategiedebatte in der NATO

Ausgabe: 1988 | 3

"Warum kann die NATO nicht abrüsten?" und "Was müßte geschehen, daß weiterreichende Abrüstung in Europa möglich wird?", diesen beiden Fragen geht der wissenschaftliche Mitarbeiter der GRÜNEN, Schulze-Marmeling, im vorliegenden Buch nach. Er verweist dabei auch auf NATO-interne Interessenswidersprüche zwischen den USA und Westeuropa. Bei aller Problematik von Zahlenvergleichen versucht der Autor nachzuweisen, daß die NATO sowohl im nuklearen als auch im konventionellen Bereich dem Warschauer Pakt überlegen ist. Dies ist Voraussetzung für die Doktrin der "flexible response", die darauf abzielt, dem Gegner jederzeit die eigene Strategie aufzuzwingen. Aus diesem "Überlegenheitszwang" folge, daß die Teilabrüstung im Bereich der atomaren Mittelstreckenraketen (INF-Vertrag) durch andere Systeme ausgeglichen werden müsse. Doch gerade diese Nachrüstungen lassen NATO-interne Widersprüche erkennen. Westeuropa und im Besonderen der BRD liegt an einer "glaubhaften nuklearen Abschreckung", die (so die herkömmliche sicherheitspolitische Theorie) nur durch die Ankoppelung an die in den USA stationierten strategischen Nuklearsysteme garantiert ist. Die USA dagegen änderten ihre Strategie weiterhin in Richtung "Kriegsführungsfähigkeit" unter Aussparung des eigenen Territoriums. Der Friedensbewegung empfiehlt der Autor, an diesen divergierenden Interessen innerhalb der NATO anzusetzen. Der sicherheitspolitisch konservativen Antwort auf diese Widersprüche sei der Entwurf eines demilitarisierten Europas entgegenzusetzen. Dazu braucht es nicht nur Abrüstungsforderungen, sondern auch ein neues, mehrheitsfähiges sicherheitspolitisches Denken. Für die BRD entwirft der Autor folgendes Szenario: (Symbolischer) Verzicht auf den „First use", der noch immer Bestandteil der Doktrin der "flexible response" ist, schrittweises Abrücken vom NATO Bündnis, Verzicht auf eigene Nuklearbewaffnung, Entwicklung in Richtung Neutralismus. Als vorbildhafte Beispiele nennt Schulze die NATO-Mitglieder Norwegen und Dänemark: Beide untersagen in Friedenszeiten die Stationierung fremder Truppen, nuklearer wie chemischer Waffen auf ihrem Territorium und unterlassen die Ausbildung ihrer Streitkräfte sowie die technische Ausstattung ihrer Waffen.

Diese Politik schafft mehr Souveränität, da das eigene Territorium nicht länger für fremde Zwecke (der USA) funktionalisiert werden kann und überdies die geringere Bedrohung gegenüber dem Warschauer Pakt für Entspannung sorgt. Marmeling-Schulze kommt zu dem Ergebnis, daß eine rot-grüne Koalition die Lösung der Bundesrepublik vom nuklearen Sicherheitsdenken einleiten könnte.

Das Buch enthält für alle an den Perspektiven europäischer Abrüstung Interessierten wertvolle Fakten, Analysen und Thesen, die über das Raketenzählen hinaus auf die Widersprüche der NATO-Planung verweisen und einen möglichen Weg zur Überwindung Abrüstung der Nuklearstrategie selbst aufzeigen.

Schulze-Marmeling, Dietrich: Kann der Westen abrüsten? Die neue Strategiedebatte in der NATO. Köln: Pahl Rugenstein, 1988. 175 S. DM 14,80/ sfr 12,50/ öS 115,40