Virtueller Krieg

Ausgabe: 2001 | 2

Der kanadische Journalist Michael Ignatieff hat sechs Essays zu einem Band zusammengefasst, von denen sich lediglich der letzte dem Titel des Buches widmet. Die ersteren nähern sich der Thematik Balkankrieg höchst konkret, indem der Autor die Begegnung mit vier Persönlichkeiten schildert, die insbesonders dem Kosovo-Krieg ihren Stempel aufgedrückt haben. Er begegnet Richard Holbrooke, dem Architekten der amerikanischen Diplomatie auf dem Balkan, Wesley Clark, dem Oberkommandeur der Alliierten Streitkräfte, Louise Arbour, der Chefanklägerin des UN-Kriegsverbrechertribunals und schließlich Aleksa Djilas, einem serbischen Gegner des NATO-Bombardements. Ignatieff ist Journalist und vermag diese höchst subjektiven Zugänge sehr anschaulich zu schildern. Gleichzeitig hält der Autor auch mit seiner persönlichen> Wahrnehmungsgeschichte des Krieges nicht hinter dem Berg. Aus dem glühenden Befürworter eines militärischen Eingreifens der NATO, der sich nicht scheut, seinen betont emotionalen Zugang mit militärisch-zynischer Terminologie zu veranschaulichen   in der ersten Phase der Bombardierung spricht er von „homöopathischen Dosen“   wird im Laufe der Begegnungen ein nachdenklicher Zweifler, der bereits wenige Wochen nach Beendigung des Bombardements die vermeintlichen Kriegsziele konterkariert wahrnimmt und den Friedensperspektiven im Kosovo und der ganzen Region äußerst skeptisch gegenübersteht. Diese Skepsis ist der Ausgangpunkt des abschließenden Essays, in dem Ignatieff den Terminus des „Virtuellen Krieges“ herausarbeitet. Der Kosovo-Krieg steht nach Ansicht des Verfassers für eine neue Phase eines modernen Krieges, der nicht mehr Krieg genannt und nicht mehr als Krieg wahrgenommen wird. Der virtuell geführte Krieg spielt sich in den vom Schlachtfeld weit entfernten militärischen Schaltzentralen bzw. auf den Bildschirmen ab   vor einem Publikum, dem sich das Vergnügen eines Schauspiels bietet, in das es zunehmend weniger Gefahr läuft involviert zu werden. Es ist die moralische Straflosigkeit, die den Autor am meisten bewegt: Der Militäreinsatz im Kosovo erreichte seine Ziele, ohne dass auch nur ein Soldat der NATO im Kampf gefallen wäre. „Die stillschweigende Vereinbarung des Kampfes war zu allen Zeiten eine grundlegende Gleichheit der moralischen Gefährdung: Töte oder werde getötet. Diese Vereinbarung wird jedoch sinnlos, wenn eine Seite anfängt, ungestraft zu töten. Anders gesagt, ein Krieg ist dann nicht mehr gerecht, wenn er zu einem Truthan-Schießen wird.“ H.-P. G.

Ignatieff, Michael. Virtueller Krieg. Hamburg: Rotbuch-Verl., 2001. 230 S., DM 34,- / sFr 24,40 / öS 190,-