Vier moralische Schriften von Umberto Eco

Ausgabe: 1998 | 3

Wenn in Zeiten der (gar nicht mehr so neuen) Unübersichtlichkeit und zunehmend individualisierter Lebensentwürfe eine Lanze für die Wiederentdeckung von Ethik und Moral gebrochen wird, so geschieht dies meist in abstrakter Form und akademischer Diktion. Umberto Eco - zweifelsfrei auch in jener Welt eine herausragende Erscheinung - gelingt es indes wie kaum einem anderen Zeitgenossen, Esprit, Lebensfreude und Intellekt zu einem größeren Ganzen zu verbinden, und auch hier einen anderen Weg zu gehen. Die vier an dieser Stelle versammelten, zu verschiedenen Anlässen entstandenen Schriften zeigen ihn als kritischen Geist, der, einfachen Antworten mißtrauend, zu grundsätzlichen Fragen der Zeit in einer Weise Stellung nimmt, die die Vorzüge kritischen Denkens mit größtmöglicher Verständlichkeit verbindet: "Die Leute sollen lernen, schwierige Dinge zu denken, denn weder das Mysterium noch die Evidenz sind einfach." (S. 75)

Dieser Satz - entnommen der Auseinandersetzung mit Kardinal Carlo Maria Martini über die Möglichkeit eine "weltliche Ethik" zu begründen und danach auch zu leben - ist für Eco gleichsam Programm und Imperativ seines intellektuellen Bemühens. Wenn wir lernen, die "Rechte der Körperlichkeit anderer zu respektieren" (S. 77) und zugleich verstehen, daß wir "ohne den Blick und die Antwort des anderen nicht begreifen können, wer wir sind" (S. 78). sei, so Eco, eine "natürliche Ethik" lebbar, "die sich in ihren zentralen Punkten mit den Prinzipien einer auf den Glauben an die Transzendenz begründeten Ethik treffen kann ..." (S.87).

Die weiteren Beiträge sind gleichsam als Beweisführung dieser These zu lesen. Das im Schatten des Golfkriegs erfolgte "Nachdenken über den Krieg" führt Eco zu der Einsicht, daß der moderne Krieg einem "parallelen intelligenten System" gleicht, in dem die einzelnen Elemente selbständig reagieren; so wird er zu einem Spiel, "das sich selber auffrißt" und dessen "wahrscheinliches Ende der Betriebsstillstand, der Tilt“ ist (S. 31 ). Nicht nur deshalb sei es "heute eine intellektuelle Pflicht. die Unmöglichkeit des Krieges zu proklamieren. Auch wenn es keine alternative Lösung gibt" (S. 34).

Den Grundlagen des „immerwährenden Faschismus" geht Eco in einem weiteren Aufsatz nach. Die Widersprüchlichkeit, mit der er vor allem in Italien in Erscheinung trat, sei kein Zeichen der Toleranz, sondern "politischer und ideologischer Verwirrung" gewesen. Um so wichtiger sei es, sich die Elemente des Ur-Faschismus (u, a. den "Kult der Überlieferung", die "Ablehnung der Moderne", den "Appell an die frustrierten Mittelklassen" und die ”Frerndenfeindlichkeit" sowie das "Leben für den Kampf" [anstelle des Kampfes für das Leben]) bewußt zu machen und auch in neuen Gesichtern zu entdecken: "Der Ur-Faschismus kann in den unschuldigsten Gewändern daherkommen. Es ist daher unsere Pflicht, ihn zu entlarven und mit dem Finger auf jede seiner neuen Formen zu zeigen - jeden Tag, überall in der Welt." (S. 67)

Im abschließenden Beitrag setzt sich Eco mit den "Migrationen des Dritten Jahrtausends" auseinander, die er von Turbulenzen begleitet sieht "Das Problem ist, daß Europa im nächsten Jahrtausend (…) ein vielrassischer oder, wenn man lieber will, ein „Farbiger“ Kontinent sein wird. Ob uns das paßt oder nicht, spielt dabei keine Rolle." Es sei Aufgabe permanenter Erziehung, gegen Intoleranz anzugehen und dem Untolerierbaren mit Entschlossenheit entgegenzutreten: "Hinnahme des Untolerierbaren stellt die eigene Identität in Frage. Man muß die Verantwortung auf sich nehmen, zu entscheiden, was untolerierbar ist, und dann handeln in der Bereitschaft, den Preis für einen Irrtum zu zahlen." (S. 115f.)

W Sp.