Versuch über die Hyperpolitik

Ausgabe: 1993 | 4

Die Hervorbringung politischer Ideen ist für Peter Sloterdijk eine Geschichte von Zusammengehörigkeitsphantasmen. Wir sitzen alle "im selben Boot", sitzen aber mit denen zusammen, mit denen wir nicht zusammengehören. In drei Bildern skizziert der Autor die Entwicklung von der Paläopolitik der vorgeschichtlichen Horden bis zur Hyperpolitik des Industrialismus, in dem eine zur "Entgrenzung tendierende WeItverkehrsgesellschaft dazu ansetzt, postimperiale planetarische Verhältnisse zu schaffen". In den präpolitischen Horden waren Dasein und Zusammengehören (zusammen hören) noch fast ununterscheidbare Größen, ihre Grundaufgabe war die "Wiederholung des Menschen durch den Menschen". In der klassischen Politik des Reichsdenkens, der "Staats-Athletik", wie sie der Autor bezeichnet, entwickelt sich als Kernmotiv der Politik das Üben des Zusammenseins im Großen. Ausdrücklich verweist Sloterdijk auf das dritte Buch der Politeia von Plato, in dem mit" wahrhaft olympischer Jovialität ... das Problem des Sichzusammenlügens extrem ungleicher Menschengruppen in einem hören Ganzen ins Thema gehoben" wird. Im Industriezeitalter schließlich zeigt sich angesichts der hyperpolitischen Groß-Einheiten stärker als in der klassischen Politik, "daß das Kleingruppentier Homo sapiens von der Hochkultur überfordert ist, sofern es ihm nicht gelingt, symbolische und emotionale Prothesen für Bewegungen in Großräumen zu erzeugen". Deshalb liegt es für Sloterdijk auf der Hand, "daß in einer Zeit, in der die Form des Großen gewechselt wird, Zugehörigkeitspathologien aller Art epidemisch werden". Die großen Deregulierungen auf dem Balkan und in Kaukasien sind für ihn die Folge von politischem Großwelt-Streß. Es kann eben keine Hyperpolitik geben ohne die Rache des Lokalen und des Individuellen. Sloterdijk will sich jedenfalls "um die Voraussetzungen für die politische Therapie von nationalen Weltformpsychosen" kümmern. Er warnt davor, daß der industrielle Prozeß im Großen mehr natürliche wie menschliche Ressourcen abbaut, als er selbst erzeugen oder regenerieren kann. Die hyperpolitische "Wettgemeinschaft" - "die auch in Zukunft auf Weltverbesserung spielen wird" - muß lernen, "ihre Gewinne so zu machen, daß es auch nach ihr noch Gewinner geben kann". Die Wiederholung des Menschen durch den Menschen müßte seine Ergänzung in der Begünstigung des Menschen durch den Menschen erfahren. Wie nicht anders zu erwarten, eröffnet sich dem Leser ein brillantes Essay über die größten und zugleich kleinsten Dinge der Politik, dem eine Kurzrezension in keinster Weise gerecht werden kann. AA

Sloterdijk, Peter: Im selben Boot. Versuch über die Hyperpolitik. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1993. 91 S., DM 19,80/ sFr 16,80/ öS 154,40