Thomas Bauer

Vereindeutigung der Welt

Ausgabe: 2019 | 2
Vereindeutigung der Welt

Thomas Bauer, Professor für Islamwissenschaft und Arabistik an der Universität Münster, prangert in diesem Essay den Verlust an Mehrdeutigkeit an, da „unsere Zeit eine Zeit geringer Ambiguitätstoleranz ist. In vielen Lebensbereichen – nicht nur in der Religion – erscheinen deshalb Angebote als attraktiv, die Erlösung von der unhintergehbaren Ambiguität der Welt versprechen.“ (S. 36) Unter Ambiguität versteht Bauer Phänomene der Mehrdeutigkeit, der Unentscheidbarkeit und Vagheit. Genau diese Eigenschaften seien positiv zu bewerten, so paradox das auch klingen mag, da sie häufig erst zu Handlungsfähigkeit führen. Als Beispiel nennt Bauer den ersten Artikel des deutschen Grundgesetzes. Durch dessen zeitlos vage Formulierung („Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlicher Gewalt“) ergebe sich erst die vielfältige Auslegungsmöglichkeit, die an den jeweiligen Kontext der Gesellschaft angepasst werden könne.

Auf der anderen Seite dürfen Situationen, Formulierungen und Gesetze aber auch nicht zu offen sein, da sie sonst beliebig werden und keine Bedeutung mehr haben. Ein „lebbares Maß“ (S. 17) an Ambiguität sollte deswegen das Ziel sein. Konsequenterweise hält sich Bauer nicht lange mit einer Begriffsdefinition auf, hält stattdessen die Begriffe „Ambiguität“, „Ambiguitätstoleranz“ und „Ambivalenztoleranz“ selbst im Vagen.

Die Moderne als Gegner der Ambiguität

Als Problem erkennt Bauer, dass Menschen grundsätzlich eher ambiguitätsintolerant seien. Sie meiden mehrdeutige, unklare Situationen und Kontexte. Schwierig wird das in der modernen Welt, in der sich Menschen andauernd in eben solchen befinden. Als Gegner der Ambiguität tritt auch die Moderne vielgestaltig auf: Verstädterung, Globalisierung, industrialisierte Landwirtschaft und auch die kapitalistische Wirtschaftsweise. Bei letzterer herrsche zum einen absolute Eindeutigkeit, die durch ihr Preisschild am jeweiligen Objekt klar ersichtlich ist. Zum anderen werden Kultur und Natur vereinfacht, indem ihre Vielfältigkeit eingeschränkt wird, was erst die industrielle Massenproduktion ermöglicht. Weitere Feinde der Ambiguitätstoleranz nach Bauer: fundamentalistisches Wahrheitsbeharren, Authentizitätsverherrlichung, „Identitätshuberei“ (S. 106). Um seine These nachvollziehbar zu machen, überzeichnet der Autor das von ihm beobachtete Vereindeutigungsstreben durch vielfältige Anekdoten und Fallbeispiele, die von einem Vergleich zwischen der amerikanischen und der europäischen Sportkultur über eine Auseinandersetzung mit Kunst bis zu Tomaten und Sexualität reichen. In den längeren Ausführungen zur Entwicklung der Religionen mag Bauer einige LeserInnen überraschen, indem er der katholischen Kirche eine große Ambiguitätstoleranz attestiert, die erst in jüngerer Zeit deutlich abgenommen habe. Die genannten Beispiele können aber auch nachdenklich stimmen. Anschaulich, fast nostalgisch wird in Erinnerung gerufen, wie eine ambiguitätstolerante Kirche reagieren könnte: Nämlich indem sie beschließt, nichts zu beschließen: Nihil esse respondendum. Da es hier im Konkreten um Missionsaufträge für kontemplative Orden und um den Umgang mit Kinderehen geht, könnte man auch Zweckrationalismus unterstellen, der sich eher in der Nähe des Kapitalismus befindet.

Auch hinter der Omnipräsenz des Authentizitätswahns erkennt Bauer einen wesentlichen Faktor zur Vereindeutigung der Welt. Dies zeichnet er anhand der Entwicklung des Musiktheaters nach, das seines Erachtens. immer realistischer wurde. Diese zunehmende Realitätsnähe nennt Bauer „Realitätshuberei“. Das mag auch an dem Authentizitätsbegriff liegen, den er verwendet: „Authentisch ist der Mensch offensichtlich nur dann, wenn er sein Inneres, seine vermeintlich unverfälschte Natur, ungefiltert nach außen stülpt.“ (S. 82) Bauer unterstellt dem authentischen Menschen Bedürfnisse, die unbedingt gestillt werden müssen. Daher ist es auch nur konsequent, dass Jugendliche zu Terroristen werden, weil sie authentisch sind – und nicht, weil sie den Koran gelesen haben, so der Autor.

Was gegen die Vereindeutigung der Welt hilft

Was können wir nun gegen die Vereindeutigung der Welt tun? Bauer schlägt vor, dass „zunächst Kunst, Religion, Wissenschaft, Politik und Natur wieder ihren Eigenwert zurückerhalten“ müssen (S. 118), durch Wiedererlangung von Ernsthaftigkeit und Respekt. Ort des Geschehens soll Bauer zufolge die Schule sein. Das mag überraschen, da Schule doch vorrangig darauf abzielt, durch die Vermittlung verwertbarer Inhalte und Benotungswahn Kreativität und Ambiguität zu untergraben.

Bauer eröffnet mit diesem Büchlein eine große Dimension, für die er zahlreiche Experten heranzieht: Journalisten, Philosophen, (Kunst-)Historiker, Religionswissenschaftler, Ornithologen, Weinkritiker. Bis auf Nena, die eingangs erwähnt wird, und die Psychologin Else Frenkel-Brunswik, lässt Bauer in seinem Essay nur Männer Stellung beziehen. Mit ihren Aussagen und Erkenntnissen festigt er seine Hypothesen. Es fällt jedoch schwer, deren Tragfähigkeit zu überprüfen, wenn auf 127 Seiten diese Personen nur kurz zu Wort kommen und zudem Gedanken von Freud, Hobsbawm, Adorno und vielen mehr dicht aneinandergereiht sind.

So viel aber lässt sich sagen: In seinen Ausführungen bleibt Bauer teilweise auch inkonsequent: „Kunst kann nicht exakt definiert werden.“ (S. 50), setzt er etwa an – versucht es dann aber doch, indem er das vorherrschende Genre von gelesenen Büchern in einer Kultur als Bemessungsgrundlage heranzieht oder die durchschnittliche Betrachtungszeit eines Kunstwerkes – 11 Sekunden – mit der Aufmerksamkeitsspanne und dieses mit dem Kunstinteresse der Betrachtenden gleichsetzt.

Dass Bauer mit diesem Buch einen interessanten Beitrag zum Diskurs der Mehrdeutigkeit leistet, mag unbestritten bleiben. Als LeserIn kann man ein breites Spektrum von Themen- und Fachgebieten erwarten, jedoch kaum Vorschläge zur Umsetzung eines Gegenprogramms.