Soziale Entropie

Ausgabe: 1996 | 2

"Ich gehe davon aus, daß die menschliche Gesellschaft wahrscheinlich schon vor, spätestens aber nach dem Durchlaufen des sogenannten Entwicklungsprozesses kollabiert und die Menschen als stammesgeschichtliche Gattung von diesem Planeten verschwinden werden." Nein, dieses Zitat stammt nicht von Ulrich Horstmann, der seit vielen Jahren die Selbstausrottung des Menschen prophezeit, sondern von Manfred Wöhlcke, Lateinamerikanist und Soziologe, bekannt durch mehrere Bücher zur Nord-Süd-Frage. Leben basiert auf dem ständig neu zu findenden Ausgleich zwischen Ordnung ("Syntropie") und Chaos (" Entropie") - soweit der der biologischen Evolution entnommene Grundsatz, der vermehrt auch auf soziale Systeme angewandt wird. Wenn Niklas Luhmann sein Hauptaugenmerk auf das Prinzip der Selbstorganisation (Autopoiesis) sozialer Systeme legt, so lenkt Wöhlcke den Blick auf die entropischen, also Unordnung erzeugenden Tendenzen der Weltentwicklung. Er belegt diese zunächst global an den Phänomenen Bevölkerungswachstum, Umwelt, Massenelend, Migrationen, Rüstung, Krankheiten und Drogen, um dann soziale Zerfallserscheinungen exemplarisch an - wohlgemerkt unter Anführungsstrichen gesetzt - "rückständigen", "unterentwickelten", “Halbentwickelten" und "hochentwickelten" Gesellschaften zu demonstrieren. Die Stammesvölker, "hochsyntropisch" organisiert, würden - so (nicht nur) die Überzeugung Wöhlckes - sehr bald aufgrund "wirtschaftlicher Interessen und gedankenloser Zerstörung der natürlichen Umwelt" ausgerottet, was die weltweite soziale Entropie erhöht. Zustimmung wird auch die Analyse des Autors finden, daß jene Gesellschaften   L der Länder des Südens, die in die" modernen" internationalen Strukturen eingebunden sind - sie umfassen die Mehrzahl der Weltbevölkerung =, nie unser "Entwicklungsniveau " erreichen werden, was mit "internen" wie "externen" Faktoren sowie mit den Grenzen der Belastbarkeit des Planeten zusammenhängt. Daß dieses Ziel auch widersinnig sei, macht Wöhlcke schließlich an der Kritik der "hochentwickelten" Gesellschaften mit ihrem "pathologischen Wirtschaftsprozeß" und den "psychischen Verkrüppelungen" ihrer Menschen deutlich. Ohne den Ausführungen in allem folgen zu wollen es läßt sich etwa darüber streiten, ob der Ordnungsverfall in den Regionen der europäischen" Peripherie" am Zustand der Toilettenanlagen (Beispiel Griechenland) oder jener der "Metropolen" am Ästethikbegriff der modernen Kunst (etwa von Bert Brecht) festzumachen ist was aber nicht grundsätzlich gegen die Einbringung der Subjektivität des Forschers in die soziologische Analyse (die Wöhlcke an keiner Stelle scheut) spricht! - so sind Bücher wie dieses ein wirkungsvolles Mittel von homöopathischer Wirkung gegen allzu schnell angebotene Lösungen durch die" Macher". Auf jeden Fall wird der hier verfolgte Ansatz der Biosoziologie weiterhin für Diskussionsstoff sorgen. H. H.

Wöhlcke, Manfred: Soziale Entropie. Die Zivilisation und der Weg allen Fleisches. München: dtv. 1996. 238 S.