Heinz Bude

Solidarität

Ausgabe: 2019 | 4
Solidarität

Nach „Gesellschaft der Angst“ und „Das Gefühl der Welt“ – Bücher, in denen es um die Macht von Stimmungen geht – widmet sich der langjährige Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung, Heinz Bude, nun dem Thema „Solidarität“ bzw. der „Zukunft einer großen Idee“, wie der Untertitel des Bandes verspricht. In einer Zeit der „enttäuschten Ideologien und der überschätzten Wissenschaft“ (S. 11) müsse man mit großen Worten vorsichtig sein, so Bude. Es gäbe weder einen moralischen Zwang zur Solidarität noch einen in der menschlichen Natur angelegten Hang zur Solidarität, „obwohl sich Solidarität für das Zusammenleben als förderlich erweisen kann“ und „obwohl der Mensch über einzigartige Fähigkeiten zur Empathie und zur Rollenübernahme verfügt“ (ebd.). Anders als Gerechtigkeit, die herzustellen Aufgabe der Politik sei, ist Solidarität für Bude „eine Möglichkeit jedes Einzelnen“ (ebd.). Man könne sich ihr verpflichten, „weil man dadurch sein eigenes Leben reicher und lebendiger macht“ (ebd.).

In zwölf, lose aneinander gereihten Kapiteln – der Autor selbst nennt sie „Meditationen“ – widmet sich Bude unterschiedlichen Aspekten von Solidarität. Er spricht von der „Unschuld des Trittbrettfahrers“ (S. 13) im modernen Wohlfahrtsstaat, der Klassensolidarität ebenso erschwere wie eine zunehmend fluider werdende Arbeitswelt der „Teams und Projektgruppen,… die die einzelnen Individuen in Gegensatz zueinander bringt“ (S. 73). Niemand wolle seine persönlichen Vorteile aus dem bestehenden System riskieren, indem er sich etwa einer auf Solidarität pochenden Linken anschließt. Mehrfach rekurriert Bude auf das Wechselverhältnis zwischen dem Sozialstaat „als institutionalisierter Solidarität“ (S. 45) und einer „solidarischen Ökologie des alltäglichen Miteinanders“ (S. 44), das nur aus der Zivilgesellschaft heraus entstehen könne.

Die Ambivalenz der modernen Individualisierung

Die Ambivalenz der modernen Individualisierung bzw. neoliberalen Selbstoptimierung bringt Bude wie folgt auf den Punkt: „Die Selbstbesorgten rücken von der Idee der Solidarität ab, weil sie darin eine Formel der Schwäche und der Abhängigkeit erkennen. Wer Solidarität fordert, kann oder will sich nicht selbst helfen.“ In dieselbe Kerbe schlagen Budes Ausführungen zum neuen Trend der „Achtsamkeit“ (mit dem etwa Matthias Horx operiert, Anm. des Rezensenten), ein Programm, das gegen das Zuviel an Reizen wappnen soll, aber simultan gleichgültig mache gegenüber dem, was in der Welt passiert. Es sei fraglich, so Bude, ob die Achtsamen für die Solidarität zu gewinnen seien: „Im Zweifelsfall siegt der Seelenfrieden über die Herzensgüte“ (S. 123). Der Autor hält es hier mehr mit dem barmherzigen Samariter aus der Bibel – ein Gleichnis für das handelnde Eingreifen, weil man mit Not konfrontiert ist.

Einer anderen Facette von Achtsamkeit widmet sich Bude in „Rinder, Blätter und die Erde“. Mit der Biologin Donna J. Haraway verweist der Autor auf die Solidarität mit den Tieren, den „anders-als-menschlichen Wesen“ (S. 125), mit dem Philosophen Emanuele Coccia auf das Eingebunden-Sein in die Natur und dem „Werk der Pflanzen“ (S. 129) als Urform der Solidarität: „Die Solidarität der Lebewesen ist eine des wechselseitigen Parasitentums, das wiederum das Leben selbst erhält.“ (ebd.) Dies führt schließlich zur Metapher der „Erdgebundenheit“ des Philosophen Bruno Latour. Die Erde sei – so Latour – kein Planet unter anderen, „sondern der vollkommen einzigartige Ort, wo wir Erdverbundene inmitten von Erdverbundenen leben und sterben“ (S 132).

„Exklusive“ und „inklusive“ Solidarität

Mit der Unterscheidung von „exklusiver“ und „inklusiver“ Solidarität nähert sich Bude am Ende des Buches dem Zusammenhalt „in einer Welt der Ungleichheit“ (S. 150). Dem Aufholen mancher Länder, die zu einer merklichen Abnahme der Zahl der Verarmten geführt habe, stehe die zunehmende Ungleichheit zwischen Weltregionen – aktueller Hotspot der Verarmung ist das Afrika südlich der Sahara – bzw. die Zuspitzung innerhalb von Gesellschaften gegenüber. In der heutigen Weltgesellschaft entscheide mehr als die Klasse der Ort, an dem man geboren wird, über die Zukunftsperspektiven von Menschen. In dieser Situation müsse, so Bude, „die ganze Welt der Bezugskosmos von Lebenschancen“ sein – und nicht mehr ein „einzelnes Land mit seinem Klassengefüge“ (S. 157). Wenn Menschen sich auf den Weg in die Wohlstandszonen machen, dann beweise dies, „dass sie den Anspruch auf ihren Anteil an der Zukunft der Menschheit wahrnehmen wollen“ (ebd.).

Bude hat mit „Solidarität“ ein sehr feinsinniges und vielschichtiges Buch vorgelegt. Sein Anspruch, dass wir jenseits der Interessensgegensätze innerhalb unserer Gesellschaften ein neues drittes „Wir“ finden müssen, ist hoch. Er verweist jedoch auf die zentralen Zukunftsherausforderungen, die in der Ökologie, der weltweiten Ungleichheit und den wohl weiter zunehmenden Migrationsbewegungen liegen. Solidarität beschwört eine Welt, die wir mit anderen Lebewesen teilen. Sie sei mit Blick aufs Ganze oft sinnlos, doch – so schließt Bude mit Camus – ein Akt der Rebellion gegen die Absurdität des Daseins.