Praktische Naturphilosophie

Ausgabe: 1997 | 2

Es ist gegenwärtig eher selten, daß Philosophen sich mit Ethik in Form eines Entwurfs vom besseren Leben beschäftigen. Umso verdienstvoller ist der hier vorgelegte, umfassende Diskurs einer praktischen Naturphilosophie, in dessen Mittelpunkt K. M. Meyer-Abich die Frage stellt, wie wir "Freiheit in natürlichem Mitsein" verwirklichen können. In ihrem räuberischen Zugriff auf die Welt leben die Industriegesellschaften" wie Horden interplanetarischer Eroberer, die eigentlich gar nicht hier her gehören", meint der Autor und fordert dazu auf, sich der Kultur als "am ehesten spezifischen menschlichen Beitrag zur Naturgeschichte" zu besinnen, um Wirtschaft und Wissenschaft Grenzen zu setzen bzw. Alternativen aufzuzeigen, die "kollektive Adoleszenzkrise" zu überwinden und wiederum "seßhaft" zu werden. Wie aber kann dies gelingen? In der Rückbesinnung auf die abendländischen Mythen, die Renaissance sowie v. a. die reiche (natur)philosophische Tradition der Neuzeit (von Nikolaus von Kues über Goethe und Kant bis hin zu Herder) sieht Meyer-Abich eine Chance dafür, zu einem Verständnis "Gemeinsamer Sicherheit" mit der Natur zu finden. Dem Einzelnen sei es aufgegeben, "auf die bestmögliche Art zu sein, wofür man gut ist", gemeinsam gelte es danach zu fragen, "wodurch die Welt schöner werde, als sie ohne uns wäre". In der Verwirklichung der je persönlichen "Schuldigkeit" sei der Traum des "natürlichen Mitseins" zu realisieren. Die von stupendem Wissen (vor allem um Kunst- und literaturwissenschaftliche Bezüge) und Ehrfurcht gleichermaßen gekennzeichnete Darstellung führt den Verfasser - nicht nur Philosoph, sondern zugleich auch Naturwissenschaftler und (ehemals) Politiker - im Wesentlichen zu zwei Brennpunkten der aktuellen Debatte um die Gestaltung der Zukunft: Zum einen wird das erkenntnistragende Leitbild der Naturwissenschaften, die Meyer-Abich als auf Tat-Sachen sich beschränkende Ersatzreligion mit dem Ziel der Angstverdrängung kennzeichnet kritisiert und ein "Zehent" (an Finanzen und Zeitaufwand) gefordert, um Zweck und Mittel des Erkenntnisgewinns im Sinne sozialverträglicher Forschung neu zu justieren. Zum anderen plädiert der Verfasser für die Entwicklung einer (kultur)politisch motivierten Bürgerschaft, die helfen soll, das lähmende Ritual wechselseitiger Schuldzuweisungen von Politik, Verwaltung und Wirtschaft - beispielhaft verdeutlicht an der deutschen Energiedebatte - mit dem Ziel der Umsetzung vorliegender Handlungskonzepte zu überwinden. Vor dem Hintergrund der Tatsache, daß der Nettowohlstand auf dem Stand von 1970 stagniert (die Zuwachse des Bruttosozialprodukts also ausschließlich zur Schadensminimierung des Wirtschaftshandelns aufgebracht werden müssen), sind die zur Diskussion gestellten "Sieben Grundsätze der Praktischen Naturphilosophie für eine physiozentrierte Ethik" dazu angetan, die "unsittlichen Lebensformen der Industriegesellschaft" (zu Lasten der natürlichen Mitwelt, der Dritten Welt, der Nachwelt wie auch der Mitbürger und des eigenen Gemeinwesens) zu korrigieren. Die Stichworte sind Lebensentwurf, Aktualität Relevanz, Kein Leben zu Lasten Dritter, Gelingender Umgang mit Pluralität Identität in der Gemeinschaft und Selbstgefühl. Wenn es zutrifft, daß Zukunft nur im Wissen um Herkunft tragfähig gestaltet werden kann, dann ist dies ein wesentlicher Beitrag zu möglichem Gelingen. Die anspruchsvolle, jedoch umso lohnendere Lektüre macht deutlich: der Durchbruch zu einem Leben in natürlicher Mitweltlichkeit ist machbar, aber gewiß nicht leicht zu haben. W Sp.

Meyer-Abich Klaus M.: Praktische Naturphilosophie. Erinnerung an einen vergangenen Traum. München: Beck, 1997. 520 S., DM 78,- / sFr 71,- / öS 569