Menschenrechte und Menschenpflichten

Ausgabe: 1993 | 3
Menschenrechte und Menschenpflichten

Editorial 1993/3:

Woher nehmen wir die Hoffnung, dass sich die Waagschale im Lauf der Entwicklung von Mensch und Gesellschaft endgültig zugunsten des Guten neigen wird? Haben Wissenschaft und Technik, die Vereinten Nationen oder die Deklaration der Menschenrechte dazu beigetragen? In fünf Jahren rundet sich das Halbjahrhundert ihres Bestehens und wie gerne würden wir es glauben! Doch die Wirklichkeit ist unerbittlich: In eben diesem Halbjahrhundert seit dem Ende des schrecklichsten Krieges der Geschichte - mit dem größten wissenschaftlich-technischen Fortschritt, der größten Internationalisierung in Industrie, Handel und Verkehr, zahlreichen weltumspannenden Organisationen und einem elektronischen Kommunikationsnetz, das Milliarden zu Augen- und Ohrenzeugen überall auf der Erde macht -, durchleben wir Jahrzehnte eines massenhaften Rückfalls - oder Fortschritts? - in furchtbarster Brutalisierung. Sind Massenvernichtungswaffen nicht Produkte der wissenschaftlich-technischen Revolution? Beuten die reichsten Länder, die "Entwickelten", die sich als Vorbild anpreisen, die Hungernden nicht weiter erbarmungslos aus? Durchdringt das organisierte Verbrechen nicht alle Sphären von Wirtschaft und Politik? Welch ein Wagnis - und wie gerechtfertigt! - angesichts dieser Weltschande eine Weltkonferenz über Menschenrechte abzuhalten. Das bescheidene Ergebnis ist bekannt: ein Hochkommissariat für Menschenrechte wird es geben, und ihre Verletzung soll auch individuell einklagbar sein. Das bedeutet immerhin die formelle universelle Anerkennung, trotz der Angst der Offiziellen, auf der Konferenz Namen und Adressen des Bösen zu benennen. Dennoch: Ideen sind wie Lebewesen. Sie werden geboren, verbreiten sich und tun ihre Wirkung. Dass Sklaverei, Folter und Todesstrafe in vielen Ländern Vergangenheit sind, dass Schulen, soziale Sicherheit und unabhängige Gerichte wenigstens im reichen Norden fast selbstverständlich sind und dass - eine tiefgreifende Revolution! die Gleichberechtigung der Frauen, der MEHRHEIT DER MENSCHHEIT, wenigstens zum Teil erreichtes Kampfziel ist, all dies und vieles mehr ist möglich, weil die Idee der Menschenrechte lebt und wirkt. Doch selbst diese edle Kollektividee wird der neuen globalen Bedrohung - der Zerstörung der Lebensgrundlagen durch "unkritische Anwendung der Naturwissenschaften" (Carl F. von Weizsäcker) nicht mehr gerecht. "Selbstloses Handeln", beim einzelnen als Tugend gepriesen, ist zum Gebot für unsere Gesellschaft geworden: ein umfassender Altruismus allem Lebendigen und seinen Quellen gegenüber ist gesamtheitlich "Egoismus auf lange Sicht". Die Idee von der Menschenpflicht zur Erhaltung des Lebensgeflechts unserer Erde ist längst geboren. Vor fünf Jahren, bei der Herbsttagung des Club of Rome in Paris, verdichtete sie sich zu einem Projekt: eine Deklaration der menschlichen Verantwortung soll als gleichwertige Parallele zur Deklaration der Menschenrechte ausgearbeitet und von der Völkergemeinschaft beschlossen werden. Im Dezember des Vorjahres trafen an der Universität von Triest 22 Wissenschaftler aus aller Welt (darunter sechs Nobelpreisträger) zur "ersten Konferenz für die Vorbereitung einer Magna carta der Pflichten" zusammen. In ihrer ersten Botschaft betonen sie die hohe politische Verantwortung der Wissenschaftler, die fortan verpflichtet seien, "einen Teil ihrer Karriere zu opfern, um einen informativen Beitrag zur öffentlichen Debatte über vitale Probleme unserer Zeit zu leisten, von denen das Überleben der Menschheit abhängt." Ein erster Entwurf der" Deklaration der Menschenpflichten" wurde formuliert. Er wird auf der Folgekonferenz (25.-27. November, Triest) in fünf Arbeitsgruppen diskutiert und voraussichtlich vom Plenum als Vorschlag an die Vereinten Nationen verabschiedet werden. Gewiss, eine solche „Carta der Menschenpflichten" wird der großräumigen Naturzerstörung ebenso wenig ein rasches Ende bereiten, wie die Deklaration der Menschenrechte ihre entsetzlichste Missachtung beendet hat. Dem von den Wissenschaftlern für die "Morgendämmerung des 21. Jahrhunderts" geforderten Wandel im Denken und Wertsystem, "so revolutionär wie der am Ende des Mittelalters", steht ein Gebirge an Unwissenheit, Vorurteilen, Selbstsucht, Hass, Hab- und Machtgier im Wege. Doch der Dekalog des Überlebens wird wirken - umso rascher und rettender, je mehr Menschen am Prinzip Verantwortung und am Prinzip Hoffnung festhalten und sich bemühen, danach zu handeln.