Die lange Nacht der Metamorphose

Ausgabe: 2018 | 3
Die lange Nacht der Metamorphose

Paoli und Blockkonfrontation in der Kultur„Nehmen wir vorübergehend diese Behauptung für unbezweifelbar: Eine anthropologische Mutation ist in vollem Gange. In letzter Zeit fand eine brachiale Veränderung statt, die die geistige Verfasstheit der Individuen betrifft. Sitten und Denkweisen, die vormals als selbstverständlich galten, scheinen nicht mehr nachvollziehbar, dafür werden Zustände akzeptiert, gegen die vergangene Generationen sofort auf die Barrikaden gegangen wären.“ (S. 13) Dieser Hypothese hafte zwar ein „Hauch von Hysterie und, blamabler noch, von Kulturpessimismus an“, Guillaume Paoli stellt sie dennoch als Bezugspunkt in die Mitte seiner Überlegungen. Das tue ja nicht nur er, auch andere, einander sogar entgegengesetzte Denkweisen seien sich darin einig.

Die einen schwärmen von einem nie da gewesenen Wohlstand der westlichen Gesellschaft, von einem historischen Menschentypus, der sich von allen falschen Vorstellungen und abscheulichen Sitten definitiv verabschiedet hätte. Lediglich einige noch nicht Mutierte seien noch zu bekehren. Die anderen zeichnen ein katastrophales Bild der Gegenwart. „Anhand zahlreicher Abhandlungen über Flexibilisierungsdrang, Selbstoptimierungswahn, Konsumsucht, Narzissmus und Depression wird ein Phantombild des Mutanten erstellt, selbst, wenn dies nicht beim Namen genannt wird.“ (S. 20) Implizit wird gehofft, dass noch genug Noch-nicht-Mutierte übrig seien, die diese Kritik teilen mögen. „Konservative und Fortschrittsfreunde stehen einfach auf verschiedenen Seiten der Metamorphose. Die einen können den Nutzen nicht nachvollziehen, der durch die Mutation entstanden ist. Die anderen können nicht erkennen, welche Vorteile des Alten verschollen gegangen sein sollen.“ (S. 23)

Die Mutation ist nach Paoli in vollem Gange

Paoli übernimmt nun die Idee, dass die Mutation im Gange sei. Er fragt nach der Triebkraft hinter dem Geschehen. Das sei der Neoliberalismus, so seine Annahme. „Damit die Märkte ihren ‚spontan‘ ‚natürlichen‘ Zustand erreichen konnten, mussten die Individuen diszipliniert und neu modelliert werden.“ (S. 31) Schlüsselbegriffe bzw. -phrasen seien „Selbstverwirklichung“, „der eigene Chef sein“, „Selbstkontrolle“. Im Jahr 1961 hieß es bei der OECD zur Erklärung des Begriffs „Humankapital“: „Heute versteht es sich von selbst, dass es genauso wichtig ist, Menschen für die Wirtschaft vorzubereiten wie Sachgüter und Maschinen. Das Erziehungswesen steht nun gleichwertig neben Autobahnen, Stahlwerken und Kunstdüngerfabriken.“ (S. 92) Unabhängig von ihrer Klassenzugehörigkeit versuchen Menschen diese Ideen über das marktfähige Selbst mit Leben zu füllen. Die Klassenunterschiede werden zwar nicht aufgehoben, sie werden jedoch durch die verschiedenen Identifikationsmodelle und Alltagserfahrungen zunehmend verwischt. Arbeiter, Angestellte und auch Aktionäre werden zusammen zu Selbstoptimierern. (S. 32)

Der Neoliberalismus sei nicht nur eine Ideologie, die sich an Individuen verschiedener Schichten mit Vorschlägen zur Selbstsicht wende. Er materialisiere sich auch in Produkten, die selbst dann noch präsent sein werden, wenn eine Gesellschaft mehrheitlich der Ideologie abschwören würde. Ritalin, Facebook, Fair-Trade-Kaffee, Reality-TV, Leihmütterschaft und Lottoscheine seien vergegenständlichte Ideologie. (S. 33)

Angriff auf den Mainstream liberalen Denkens

Paoli geht auf dieser Grundlage zum Angriff auf den Mainstream liberalen Denkens über: Besserverdienende und alle aufgeklärten BürgerInnen teilten heute dieselbe tolerante und weltoffenen Lebenseinstellung. Konservativ seien nur noch die Unterschichten, nun werde Vorbehalt gegen das liberale System mit dem Antiliberalismus eines Putin oder Kim Jong-un identifiziert. In dieser neuen Dichotomie verschwindet die Frage der Klassenunterschiede in einer dunklen Ecke.

Die Gentrifizierung der Kultur bedeute heute, dass das Flutlicht auf zwei sehr marginale Pole gerichtet wird. „Wir werden alle aufgefordert, uns mittels binärer Kategorien zu positionieren, die wir selber niemals gewählt hätten. Sind sie für Globalisierung oder Identität? Für Freiheit oder Gleichheit? Für Vergangenheit oder Gegenwart?“

Auch der Umgang mit der Vergangenheit ist umkämpft. Anscheinend bestehe in Zeiten der Mutation aber die einzig legitime Verbindung in die Vergangenheit in der Thematisierung eines erlittenen oder geerbten Unrechts. Zugelassen sei nur die Identifikation mit den Verfolgten und Ermordeten der Weltgeschichte, genauso wie der gegenwärtige Protest auf partikulare Diskriminierungen fokussiert sei. Ein breiterer Winkel würde das Leid nur bagatellisieren, so das herrschende Argument. Im Ergebnis produziere das Fehlen des breiteren Winkels jedoch „ein unentwirrbares Durcheinander von zusammenhanglosen Ereignissen und irrationalen Hysterien, schicksalhaften Unfällen und obskuren Verschwörungsvermutungen, apokalyptischen Prophezeiungen und frommen Erlösungswünschen”.

Der soziale Kampf fällt aus

Die Möglichkeit kollektiver sozialer Veränderungen sei blockiert. Zudem fehle ein konkreter Raum, im Rahmen dessen sich Kooperationen und Rivalitäten abspielen könnten. Der supranationale Raum sei unerreichbar, der nationale durch die Geschichte des Nationalismus vergiftet. Einzig auf lokaler Ebene könne sich noch ein alternatives Projekt über die Grenzen hinweg bilden. Dazu bedürfe es aber einer starken subjektiven Zugehörigkeit zu dem Raum. Selbst das sei zunehmend als lokalpatriotisch verpönt und außerdem eine lokale Zugehörigkeit bloß eine beliebige Station im eigenen nomadischen Lebenslauf (vgl. S. 176). Der soziale Kampf fällt aus.

Auch das postmoderne Denken leiste dazu einen Beitrag: „Während die Welt in tausend kleine periphere Domänen dekonstruiert worden ist, bleibt das große soziale Konstrukt des Kapitals im toten Winkel – was ihm den Status einer zweiten Natur verleiht, einen unveränderlichen Hintergrund, vor dem sich der Maskenball der Subjektivitäten abspielt.“ (S. 72)

Und trotzdem ist die Welt nach der Mutation nicht stabil. „Jetzt kommt die dialektische Pointe: Gerade dieser jüngste Sieg des Kapitals über seine Gegner könnte der Anfang seines Ruins sein“ (S. 202). In dem die sozialen Gegenkräfte des Kapitalismus marginalisiert wurden, ist dieser jetzt auf sich selbst gestellt. „Aber, je weniger Geld die Menschen haben, je vernachlässigter öffentliche Infrastrukturen sind, desto sicherer kollabieren mittelfristig die Märkte.“ (S. 203) Letztlich hätten postmodernes Denken und die kulturalistische Linke doch subversiv gewirkt: „Indem sie dazu beitrugen, den Gedanken des sozialen Kampfes auszumerzen, haben sie die Selbstzerstörungsmaschinen schön geschmiert.“ (S. 203) Stefan Wally

 

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