Nachdenken über Deutschland

Ausgabe: 2013 | 4

Nachdenken über Deutschland heißt für Wolfgang Lieb (promovierter Jurist, war u. a. Regierungssprecher von Johannes Rau) und Albrecht Müller, (Nationalökonom und früher Leiter der Planungsabteilung im Bundeskanzleramt unter Willy Brandt und Helmut Schmidt) sich einzumischen, zu hinterfragen, sich kritisch mit politischen Themen auseinanderzusetzen. Dies geschieht auf dem Internetportal www.nachdenkseiten.de und in einem zusammenfassenden Rückblick auf die wichtigsten politischen Themen des Jahres bereits seit 2007 auch in Buchform.

 

Das Internetprojekt will dazu ermutigen, hinter die Kulissen der Kampagnen von Lobbyisten und „Experten“ zu schauen, um sich auf der Basis von Fakten eine eigene Meinung zu bilden. Der Liedermacher Konstantin Wecker bringt es in seinem Vorwort auf den Punkt. „Die Autoren stellen sich dem allgemeinen Meinungsstrom und dem Herdentrieb der Leitmedien entgegen.“ (S. 8) Für Oskar Lafontaine sind die NachDenkSeiten „in einer weitgehend von neoliberalem Zeitgeist beherrschten Medienwelt … wichtige Instrumente der Aufklärung. Sie setzen Themen; sie holen einseitige Kampagnen und Meinungsmache ans Licht. Und sie beschreiben dabei auch noch, was aus sachlichen Gründen zu tun wäre.“

 

 

 

Nach der Krise ist vor der Krise

 

Geprägt war das Jahr von den Auswirkungen der Finanzkrise, der weiteren Hinwendung zum Neo-liberalismus und dem Niedergang der sozialen und demokratischen Kultur in Deutschland. Zunächst zeigen die beiden politischen Insider auf, dass die bisherigen Reformmaßnahmen alle mehr oder weniger das Gegenteil des ursprünglichen Planes bewirkt haben. Die Arbeitsmarktreformen haben beispielsweise eine Lohnsenkungsspirale von bislang unvorstellbarer Abwärtsdynamik in Gang gesetzt (Niedriglöhne, Ein-Euro-Jobs, Leiharbeit). Der Anteil der Löhne am Volkseinkommen ist gesunken, die Einkommen aus Gewinnen und Vermögen sind dagegen seit 1974 um 36 Prozent gestiegen. Schließlich sei „die Finanzkrise nur der dramatischste Beweis für das Scheitern dieser Politik“, meinen die Autoren. (S. 16) Es fehlt dabei auch nicht der deutliche Hinweis auf die Interessen einer Politik, die unter „Steuern senken“ und „bürokratische Hemmnisse abbauen“ die Zurückdrängung des Staates durch finanzielles „Aushungern“ und Deregulierung versteht. Die Rede ist vom „Steuersenkungswahn“ ohne Rücksicht auf die gesamtwirtschaftliche Situation, damit die Unternehmer wieder mehr investieren, und es wird darauf hingewiesen, dass das Ergebnis einer solchen Anreiz-Wirtschaftspolitik eine allenfalls von der Nachfrage von außen, vom Export angeregte Konjunktur zur Folge hat. Zudem verkünde diese Politik, so die Autoren, nach jedem Scheitern einen „Neustart“.

 

 

 

Von wegen Sozialdemokratisierung

 

Die Schwarz-Gelbe Koalition hat die deutsche Gesellschaft weiter gespalten und auseinandergetrieben. Dieser Trend wird sogar von konservativen Zeitungen wie „FAZ“ und „Süddeutsche Zeitung“ beklagt. Die deutsche Kanzlerin propagiert einen fairen Ausgleich zwischen Sozialkürzungen und Belastungen der Wirtschaft. Gebraucht würde aber, so ist den Argumenten in den „NachDenkSeiten“ zu entnehmen, ein Ausgleich zwischen Arm und Reich, also zwischen denjenigen, „die unter der Finanz- und Wirtschaftskrise“ am meisten zu leiden haben, und den Gewinnern. Zudem wird bei näherem Hinsehen die „Beteiligung der Wirtschaft“ als „Lügengebäude“ entlarvt: „Von einer Rücknahme der Steuerbefreiung für die Veräußerung von Betrieben oder Betriebsanteilen oder von einer Anhebung der auf 25 Prozent gesenkten Zinsabschlagssteuer, einer höheren Besteuerung von Bankenboni oder gar von einer Anhebung der Vermögenssteuer ist keine Rede. (S. 32). Deutschland bleibt ein Steuerparadies für Millionäre, die laut „Deutschem Institut für Wirtschaftsforschung“ im Durchschnitt nur 36 Prozent Steuern auf ihr Einkommen zahlen. Der Anteil mittlerer und niederer Einkommen am ge-samten Steueraufkommen liegt bei 70 Prozent. Der Vollständigkeit halber wird erwähnt, dass für Hartz-IV-Empfänger das Elterngeld von ohnehin nur 300 Euro im Monat komplett gestrichen werden soll (dies wird im Beitrag als „negative Eugenik“ bezeichnet, S. 34). Wir werden, so ist einem der Beiträge zu entnehmen, in der Finanzkrise immer wieder maßlos und unanständig hinters Licht geführt. Die von Banken eingezahlten Summen in den Hilfsfonds sind lächerlich im Vergleich zur Höhe des in Anspruch genommenen Steuergeldes während der Krise.

 

 

 

Noch immer grüßt der Neoliberalismus

 

Es war wohl eine grobe Fehleinschätzung, dass mit der Wirtschaftskrise auch die Erfolgschance der neoliberalen Ideologie erledigt sei, wie viele zu hoffen wagten (vgl. S. 239). Auch deshalb beschäftigen sich die Autoren überaus kritisch mit der nach wie vor geltenden neoliberalen Ideologie. Einige Beispiele gefällig: Die Altersvorsorge wurde teilprivatisiert und dadurch um vieles teurer. „Zur Bewirtschaftung der gesetzlichen Rente wird nur wenig mehr als ein Prozent der Beiträge gebraucht. Zum Betrieb und Vertrieb der Riester- und der Rürup-Rente sind zwischen zehn und 20 Prozent des Prämienaufkommens fällig.“ (S. 78) In vielen Bereichen (Bahn, Telekom, Energiewirtschaft) wird ein öffentliches Monopol durch ein privates Monopol oder Oligopol ersetzt. Und wieso soll es volkswirtschaftlich von Nutzen sein, wenn durch die Privatisierung des Paketdienstes drei Lieferwagen verschiedener Paketzusteller nacheinander täglich dieselben Straßen befahren, um ihre Pakete auszuliefern.

 

Auch jenen, die Stimmung für das „Sparpaket“ durch den Deutschlandcheck der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) zusammen mit der „Wirtschaftswoche“ machen und eine breite Zustimmung der Bevölkerung bekunden, wird entgegengehalten, dass laut „Infratest dimap“ 79 Prozent der Befragten das vorliegende Sparpaket der Bundesregierung für sozial nicht ausgewogen halten. Desgleichen zeigt das ZDF-Politbarometer, dass 91 Prozent der Befragten Kürzungen im Bereich Rente, 86 Prozent im Bereich Gesundheit und 84 Prozent bei der Familienförderung ablehnen.

 

Diesen kleinen Ausschnitt an Gegenargumenten zum Mainstream sollte man durch einen Blick auf www.nachdenkseiten.de ergänzen – ein wirkliches Leseerlebnis anstelle der Mainstream-Blätter und TV-Stationen. Die Seiten sind inzwischen zu einem der größten politischen Blogs in Deutschland avanciert. Über 50.000 LeserInnen nutzen mittlerweile täglich das nichtkommerzielle und ehrenamtliche Projekt der Autoren. Und es werden täglich mehr. Ein beeindruckendes Zeugnis für ein funktionierendes und sich ständig erweiterndes Netzwerk der Gegenöffentlichkeit. A. A.

 

Müller, Albrecht ; Lieb, Wolfgang: Nachdenken über Deutschland. Das kritische Jahrbuch 2010/2011. Westend-Verl., 2010. 272 S., € 14,95 [D], 15,40 [A],

 

sFr 23,50 ; ISBN 9-783-93806-056-8