Mystik und Widerstand

Ausgabe: 1998 | 2

Ist es nicht geradezu verwegen, in einer von Globalisierung und Individualisierung geprägten Zeit, deren Maxime „Ich konsumiere, also bin ich" lautet, von Mystik und deren Aktualität zu sprechen? Mehr noch: Kann aus mystischer Erfahrung, die der Vermittlung sich vielfach verschließt, gar Widerstand wachsen gegen Macht- und Besitzgier? "Mystik", so Dorothee Sölle, "ist die Erfahrung der Einheit und der Ganzheit des Lebens, (...) ist Widerstand, gewachsen aus der Wahrnehmung der Schönheit. Und das ist der langfristigste und gefährlichste Widerstand, den es gibt" (S. 14).

In drei großen Schritten durchmißt die kritische Theologin ihr Thema. Zunächst geht es ihr um eine definitorische Annäherung und Beschreibung mystischer Erfahrung mit dem Ziel, diese gewissermaßen zu demokratisieren. In der Präsentation und behutsamen Interpretation von Aussagen bedeutender Mystikerinnen aus allen Kulturkreisen wird insbesondere die radikal antiautoritäre Haltung - vor allem auch der Frauen - sowie die Überzeugung deutlich, daß "wir alle nicht zu Kleinem geschaffen" sind (Meister Eckhart).

Staunen, Loslassen und Widerstehen, das sind für Dorothee Sölle die drei Stationen einer auch gegenwärtig anzutretenden Reise, die mitzumachen wir alle eingeladen sind, um der”Zerstückelung der Welt" entgegenzuwirken. An die Stelle der "Hermeneutik des Verdachts", die - zurecht - auf die Mechanismen männlicher Herrschaft aufmerksam macht. möchte die Autorin eine "Hermeneutik der Hoffnung" setzen, die etwa durch eine Haltung der "Achtsamkeit" (gerade auch den kleinen, scheinbar unbedeutenden Dingen des Alltags gegenüber) dazu beiträgt. der Trivialisierung des Lebens - die "vielleicht stärkste anti mystische Macht unter uns" (S. 30) - entgegenzuwirken.

Als "Orte mystischer Erfahrung" werden (Abschnitt 2) sodann Natur, Erotik, Leiden, Gemeinschaft und Freude ausgemacht, wobei sich der Bogen von Beispielen alternativer Lebensformen im Mittelalter (Beginen) bis zur Darstellung "mystischer Biographien" (etwa: Edith Stein, Simone Weil u. a. m.) spannt.

"Mystik ist Widerstand", so ist der dritte Abschnitt dieses scheinbar so unzeitgemäßen und doch brennend aktuellen Buches übertitelt. Nicht leichtgläubig, schon gar nicht naiv, sondern - allen Widerständen zum Trotz mit kraftvoller Subversivität plädiert Dorothee Sölle dafür, neue, spirituell geprägte Formen des zivilen Widerstandes zu erproben, die introvertierte Mystik mit extrovertierter Zeitkritik verbindet.

Ziel ist die Einübung neuer Lebensformen, die neben dem Ich auch der Ichlosigkeit. neben Besitz auch der Besitzlosigkeit. neben Gewalt auch der Gewaltlosigkeit Raum gibt und uns befähigt. die gegenwärtige Teilung der Welt, in Zentrum und Peripherie zu überwinden. Eine gerechtere Welt für alle zu verwirklichen heißt, eine Haltung des "weniger, kleiner, seltener und bewußter" selbst umzusetzen, denn "Gott hat keine anderen Hände als unsere. Das "stille Geschrei" in unserer Welt wahrzunehmen bedeutet. eins mit ihm zu werden" (S. 343). Oder anders formuliert: Niederknien und den aufrechten Gang lernen - so wie dies die Theologie der Befreiung praktiziert - gelingt nur miteinander.

Die Hoffnung, die wir jenseits politischer Berechenbarkeit und wissenschaftlicher Vorhersagbarkeit (S. 248) suchen, hat Substanz, denn sie beginnt damit, "andere Wünsche zu haben als die verordneten" (S. 370).

Der Lebendigkeit und subversiven Kraft von Träumen - etwa jenen von Gerechtigkeit und der Güte des Lebens - spürt auch Fulbert Steffensky nach.ln seinem soeben erschienen Buch (Das Haus, das die Träume verwaltet Würzburg, echter-verl; 1998, 170 S.,DM 29, - I sFr 28, - l öS 212,-) beschreibt er deren Riten und Institutionen (Gebet, Glaubensbekenntnis, Kirche) und erzählt "Geschichten von der Rettung des Lebens", die uns helfen, "die aufsässige Kraft des Christentums" wiederzuentdecken und "uns zu Freigeistern dieser gefährlichen Erinnerung zu machen".

W Sp. 

Sölle, Dorothee: Mystik  und Widerstand. "Du stilles Geschrei': Hamburg: Hoffmann und Campe, 1997. 383 S., DM 44,- I sFr 41,- l öS 321,-