Mehr Bürgerbeteiligung wagen

Ausgabe: 2011 | 3

In Zeiten, in denen der Vertrauensverlust in das demokratische System zunimmt, die Hälfte der Deutschen (und wohl auch der Österreicher) gar die Funktionsfähigkeit der Demokratie bezweifelt und nur noch ein Fünftel der Bevölkerung die politischen Parteien für glaubwürdig halten, ist es mehr denn je notwendig, die Bürgerinnen und Bürgern „als Experten ihrer eigenen Lebensumwelt und Träger von wertvollem Erfahrungswissen“ (S. 9) in die Politik einzubeziehen. Die Zahlen im Freiwilligensurvey sprechen eine deutliche Sprache, wenn von 24 Millionen deutschen Bundesbürger ab 14 Jahren die Rede ist, die „freiwillig engagiert“ sind. (vgl. Klages S. 119).

 

 

 

„Absichts-Bürgerbeteiligung“

 

Im Bereich des bürgerschaftlichen Engagements und des Ehrenamtes ist in den vergangenen Jahrzehnten einiges geschehen, auf dem Feld der politischen Partizipation bleibt aber nach Ansicht von Kurt Beck, Ministerpräsident des Landes Rheinland-Pfalz und einer der Herausgeber des vorliegenden Bandes, noch viel zu tun – und wer möchte da widersprechen. Eine Fachtagung zu diesem Thema verfolgte das Ziel, den aktuellen Stand der Debatte zu reflektieren, Chancen und Perspektiven für eine Vitalisierung der Demokratie durch mehr Partizipation zu diskutieren und unterschiedliche Facetten von Engagement- und Demokratiepolitik aus verschiedenen Perspektiven und wissenschaftlichen Disziplinen zu beleuchten. Die Beiträge dokumentieren die Tagung und geben wichtige Impulse für die Weiterentwicklung unseres Gemeinwesens. Dabei geht es aber nicht nur um die wissenschaftliche Reflexion des Themas, vielmehr wird am Beispiel der Kommunal- und Verwaltungsreform in Rheinland-Pfalz gezeigt, wie Bürgerinnen und Bürger in den Prozess eingebunden werden können. Durch eine Reihe von Bürgerkonferenzen, Planungszellen, eine Repräsentativbefragung sowie eine offene Online-Befragung wurden Vorschläge und Ideen für eine moderne, effiziente und bürgernahe Verwaltung gesammelt. Der rheinland-pfälzische Innenminister Karl Peter Bruch beschreibt die Schritte der Reform von ihrem Auslöser, dem Rückgang der Bevölkerungszahl und der notwendigen Änderung des Spektrums der öffentlichen Aufgaben bis zu den zwei jüngst verabschiedeten Landesgesetzen, die Gebietsänderungen und Zuständigkeitsverlagerungen neu definieren. Hans-Liudger Dienel (Direktor des Nexus-Instituts für Kooperationsmanagement, Berlin), der mit 140 ausgewählten BürgerInnen sogenannte Planungszellen durchführte, konstatiert, dass erstmals eine Kommunalreform ergebnisoffen und unter einer breiten Bürgerbeteiligung umgesetzt worden sei. Die Ergebnisse wurden in einem  „Bürgergutachten“ zusammengefasst.

 

Die Kommunalpolitik ist zweifellos ein besonders geeignetes Feld der Bürgerbeteiligung. Darauf weist Kurt Beck ausdrücklich hin. Auf kommunaler Ebene nämlich wird der Alltag geregelt, hier wird Daseinsvorsorge organisiert. Um Konflikte zwischen Anwohnern und planender Verwaltung zu vermeiden, schlägt Beck ein Dialogkonzept vor, das nicht erst dann greift, „wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist“. Er nennt es „Absichts-Bürgerbeteiligung“, wenn BürgerInnen in den Prozess der politischen Entscheidung zu einem Großprojekt möglichst frühzeitig, besser noch vor Beginn der eigentlichen Planung, eingebunden werden. (vgl. S. 28f.)

 

 

 

Erlebbare Demokratie

 

Michael Bürsch, der Vorsitzende der Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ (2002), skizziert die Eckpunkte eines Leitbildes Bürgergesellschaft, das sich an der „Vision von einem neuen Gesellschaftsvertrag (orientiert), in dem Staat, Bürgergesellschaft und auch die Wirtschaft einen jeweils tragenden Part übernehmen“ (S. 78). Der Experte gibt auch zu bedenken, dass die Förderung des bürgerschaftlichen Engagements nicht nur karitativen Zwecken diene, sondern vor allem Demokratieförderung bedeute.

 

Große Hoffnung, die Kluft zwischen der Welt der Verwalter und der Welt der Entscheider einerseits und der BürgerInnen andererseits zu überwinden, setzt der Verwaltungswissenschaftler Helmut Klages in Bürgerpanels, deren Ansatz ein komplexes Beteiligungskonzept jenseits des „single shot“-Niveaus ermögliche. Das handlungsleitende Konzept dieses Modells besteht darin, beide Seiten, Bürger und Entscheider, in eine Dialogbeziehung zu bringen, „die sich beiderseits mit einem Minimum von Anwendungen und Belastungen und einem Maximum an absehbaren Nutzenwirkungen verbindet“ (S. 121). Auf die Gefahr der Vereinnahmung des Gemeinwohls durch eine aktive Minderheit geht Jan Ziekow (Direktor des Forschungsinstituts für öffentliche Verwaltung in Speyer) ein. Er ist der Ansicht, dass Engagementpolitik unbedingt inkludierend sein, d.h. engagementferne Bevölkerungsgruppen mit einbeziehen muss.

 

Ute Kumpf, Mitglied der Enquete-Kommission „Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements“, führt in ihrem Beitrag eindrucksvoll vor Augen, wie vielschichtig die Diskussionen rund um die Themen Bürgergesellschaft und bürgerschaftliches Engagement in Deutschland inzwischen sind. „Demokratie muss im Alltag erlebbar und erfahrbar sein“, so die SPD-Politikerin (vgl. S. 17). Neben dem bereits positiv Erreichten und den vor uns liegenden großen Herausforderungen müsse es unser Ziel sein, daß Bürgergesellschaft und staatliche Politik als Partner auf Augenhöhe und in gleicher Verantwortung agieren. Keineswegs dürfe aber der Ausbau der Bürgerbeteiligung und demokratischer Mitbestimmungsrechte in eine Schwächung von Parteien und eine Abwertung parlamentarischer Verfahren münden (vgl. S. 18).

 

Auf seiner Reise durch 40 Jahre Bürgerbeteiligung landet schließlich der Parteienforscher Ulrich von Alemann bei der einstigen Forderung von Willy Brandt nach mehr Partizipation und Demokratisierung in seiner Regierungserklärung vom Oktober 1969. Für den Politikwissenschaftler bleibt abzuwarten, inwieweit die Bundesrepublik ihre Bürger in Zukunft an politischen Entscheidungen beteiligen wird und er erneuert die seit nunmehr 40 Jahren gültige Forderung: Wagen wir doch mehr Demokratie!

 

Alles in allem eine durchaus erfreuliche Bilanz, die die unterschiedlichen Facetten von Engagement- und Demokratiepolitik in Deutschland zeigt. In Österreich sind wir von dem hier skizzierten Niveau noch weit entfernt, obwohl auch hierzulande seit einiger Zeit, etwa das „Salzburger Modell für mehr direkte Demokratie“, breit diskutiert wird. A. A.

 

Mehr Bürgerbeteiligung wagen. Wege zur Vitalisierung der Demokratie. Hrsg. v. Kurt Beck … Wiesbaden: VS Verl. f. Sozialwissenschaften, 2011. 214 S., € 29,95 [D], 30,85 [A], sFr 50,90

 

ISBN 978-3-531-17861-5