Mediatisierte Kommunikation in modernen Gesellschaften

Ausgabe: 1998 | 4

Über schwindende Solidarität, Individualisierung und Vereinsamung wird des Öfteren geklagt, gar der Zerfall postmoderner Kulturen heraufbeschworen. Politikerinnen sind um Gegenentwürfe bemüht. Doch läßt sich damit einem in der Mitte westlicher Gesellschaften entstandenen Prozeß der Unverbindlichkeit entgegenwirken? Oder sind in dieser Entwicklung nicht schon neue, noch nicht genau erfaßte Bindungen enthalten?

Uwe Sander deutet mit dem Titel seines Buches, es ist seine Habilitationsschrift - bereits an, worum es ihm geht. Er hält dem politischen Wehklagen eine geisteswissenschaftliche Analyse entgegen, wobei er sich des Begriffs der "mediatisierten Kommunikation" bedient. Damit bezeichnet er eine Differenzierung und Anonymisierung auf sozialkultureller Ebene, die er als "neuen Modus sozialer Koordination" wahrnimmt.

Gewiß ist damit eine "soziale Distanz" verbunden: die alltäglichen Interaktionen einander fremder Menschen sind immer weniger durch Gemeinsamkeiten der Lebenslage, normative Übereinstimmungen oder identische Lebensmuster strukturiert. Mediatisierte Kommunikation bezeichnet die "kommunikative Handhabung dieser sozialen Distanz'; die allgemeinen Verfahrensregeln, wie mit sozialer Distanz umgegangen wird. Zentral dabei "sind sowohl Differenzen (Unterschiede der Handelnden und ihrer Einstellungen, Lebensmuster, Wertpräferenzen als ,Umwelt' der Kommunikation) als auch der qualitative Umgang mit dieser Unterschiedlichkeit; man könnte auch sagen: die Qualität der Kommunikation unter der Bedingung fehlender Gemeinsamkeiten der Kommunizierenden" (S.96f.) 

Entscheidend ist, daß erst durch eine breite Anonymisierung und Entfunktionalisierung die "Intimisierung moderner Sozialbeziehungen als Luxus der Moderne" möglich werden konnte. Somit sind auch moderne Formen von Solidarität als Folgephänomen solcherart veränderter, destandardisierter Sozialbeziehungen zu interpretieren.

Sander entmystifiziert Solidarität: Solidarität ist kein Fixum der industriellen Moderne, sondern immer selbst im Wandel begriffen, gekoppelt an soziale Beziehungen, wie immer dieses auch gestaltet sein mögen. So ist es ein Verdienst Sanders, neue Formen sozialer Bindung erkennen und ihnen zu ihrer Legitimation verhelfen zu können. Insofern hat er ein höchst politisches Buch geschrieben.


I. B.

Sander, Uwe: Die Bindung der Unverbindlichkeit. Mediatisierte Kommunikation in modernen Gesellschaften. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1998.296 S. (es; 2042) DM 22,80/ sFr 19,- / ÖS 178,-