Byung-Chul Han

Lob der Erde

Ausgabe: 2019 | 2
Lob der Erde

Der Philosoph Byung-Chul Han wendet sich in diesem Buch mit ganzem Herzen der Erde zu: Seit er beschlossen hat, aus Sehnsucht nach der Erde einen Garten anzulegen, ist ihm klargeworden, wie wenig diese Tätigkeit einfach nur eine Arbeit ist – sie ist vielmehr ein schonender Umgang mit dem Schönen, ist, wie Philosophie, die Liebe zum Schönen und Guten. Genau das ist es, was heute nottut: Ein Schonen des Schönen, ein Lob der Erde. Wir haben, so Han, jede Ehrfurcht vor diesem geheimnisvollen Leben verloren. Im Garten aber ist die Erde mit Händen greifbar, ihre Schwere spürbar, die Farben und Düfte der Blumen regen mit ihrer Materialität Sinne an, die bei dem zu einem Finger, einem Digitus, geschrumpften menschlichen Wesen verkümmert sind. In der Digitalen Welt wird nur noch ein Finger benötigt, um zu zählen, das lebendige Erzählen aber wird vernachlässigt.

Über die Jahre 2016 und 2017 folgen wir dem Philosophen dabei, wie er einen Garten voller blauer Blumen und Winterblumen anlegt. Winterkirsche, Zaubernuss und Schneeforsythie gehören zu den besonderen Schützlingen in der kalten Jahreszeit, im Sommer sind Funkie und Hortensie seine Lieblinge. Auffallend ist die persönliche Beziehung zu den Blumen: Sie ist voller Liebe, Sorge, manchmal aber auch Abneigung, stets jedoch im Wandel begriffen. Ist es die Liebe, die den Pflanzen in Winter und Schatten blühende Kraft verleiht? In dem magischen Garten, der im Winter blüht, als hätte der Sommer kein Ende, versammelt Han Pflanzen, die, wie er selbst, das fahle Licht der dunklen Jahreszeit bevorzugen und vermögen, trotz Kälte, zu blühen. Sie verkörpern ein Begehren, das über Zeit, Körper und Ort hinausgeht und künden von einem Leben inmitten des Todes, von der Sehnsucht nach Wiedererwachen, Erneuerung und Erlösung. Han spricht diesen Pflanzen, die sich Kälte und Dunkelheit widersetzen, ein metaphysisches Begehren zu, dem auch er folgt; in einer Stimmung, in die ihn die „Gesänge der Frühe“ von Schumann, „Die Winterreise“ Schuberts und „Die helle Kammer“ von Roland Barthes versetzten. Wie viele Dichter vor ihm, begibt er sich auf die Suche nach der blauen Blume; einem Sinnbild der Unsterblichkeit. Weggefährten auf dieser Reise in den Garten sind Denker wie Kant, Heidegger und Nietzsche sowie die Dichter Rilke, Novalis und vor allem Friedrich Hölderlins „Hyperion“, der es in wunderbarer Sprache verstand, menschliche Empfindungen mit Naturgeschehnissen zu verknüpfen. In dieser Stimmung sind auch die filigranen weißen Zeichnungen auf dunklem Grund gehalten, die das Buch zieren. Sie transzendieren die Eigenheiten pflanzlichen Lebens und erzählen vom Leben allgemein in seiner Raffinesse – wobei sie dem Auftrag, das Schöne zu schonen und zu loben, gerecht werden.

Philosophische Gedanken zur Gartenarbeit

Melancholie und Sehnsucht bekommen im Pflegen dieses Gartens eine Zeit und einen Ort. Der winterliche Garten verkörpert geradezu das Warten auf Licht und Leben: „Das Hoffen ist der Zeitmodus des Gärtners. So gilt mein Lob der Erde der kommenden Erde“ (S. 151). In Winter und Morgendämmerung löst sich die Zeit von ihrem gewöhnlichen, alltäglichen Verstreichen und lädt intensiv zum Innehalten ein. Im Garten, als einem Ort der Stille, kann das Schöne endlich bedacht werden, das Denken zu einem Danken werden. Die Arbeit im Garten beglückt und belebt: Für Han ein Indiz dafür, dass die Erde die Quelle des Glücks ist, wir uns aber stetig von ihr entfernen.

Der winterliche Garten versinnbildlicht einen Hoffnungsträger für den Winter unserer Zeit, die Kälte zwischen uns Menschen, die Leblosigkeit unserer Taten. Als GärtnerInnen sind wir auf der unermüdlichen Suche nach dem Schönen, dem Berührbaren, dem Dunkelheit und Kälte Trotzenden, dem Edlen, immer wieder neu Erblühenden und Lebendigen.

Einige zentrale Gedankengänge werden aus früheren Büchern wiederholt. Manche Phänomene verknüpft Han mit seinen Wahrnehmungen im Garten und stellt sie so in neuen Zusammenhang, was deren Aussagekraft aber nicht immer stützt. Nicht zerfallende Eichenblätter aufgrund ihrer Starrheit und Gleichheit zu verabscheuen, weil der Vergleich zu einer Gesellschaft gezogen wird, die nur noch Gleiches an Gleiches reiht und keine Andersheiten mehr pflegt, scheint nur vage begründbar. So schleicht sich in diesen Garten stellenweise ein Spiegel der Gesellschaft ein, obwohl er als ein Schutzraum vor dieser empfunden wird. Kann das Schöne der Erde gedeihen und gelobt werden, während es einem metaphysischen Begehren und menschlicher Wertung unterworfen wird? Lob der Erde ist eine kurzweilige Reise in einen Garten, der für den Philosophen selbst Neuland ist und dem er sich von seinem ihm eigenen Standpunkt anzunähern versucht – es ist ein Prozess, der erst im Beginnen ist und dem wir in seinen offenen Gedanken, Tagesnotizen, Empfindungen und Erlebnissen zu folgen eingeladen sind.