Liberalismus der Furcht

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Man kann sein politisches Denken auf Utopien aufbauen, auf Entwürfen einer perfekten Welt. Es ist ebenso möglich, sich auf Traditionen zu beziehen, die im Zusammenspiel zwischen Menschen entstanden sind. Oder man kann sich wissenschaftlich der Frage nähern, welche Gesellschaft am effektivsten vorgegebene Ziele wie Wohlstand erreicht. Und schließlich kann man sagen, dass Politik uns vor all diesen Überlegungen schützen muss. Das sagt zum Beispiel Judith Shklar, die 1992 in Cambridge verstorbene Professorin of Government an der Harvard Universität. In den USA war sie eine der wichtigsten Diskutantinnen und Diskutanten in den großen Debatten über die Zukunft des Gemeinwesens. Erst jetzt liegt erstmals ihr Text „Liberalismus der Furcht“ auf Deutsch vor.

Der Titel weist für das Verständnis von Shklar in die richtige Richtung. Zum einen sieht sie sich in der Tradition des Liberalismus. Darunter versteht sie, dass „jeder erwachsene Mensch in der Lage sein sollte, ohne Furcht und Vorurteil so viele Entscheidungen über so viele Aspekte seines Lebens zu fällen, wie es mit der gleichen Freiheit eines jeden anderen erwachsenen Menschen vereinbar ist“ (S. 27).

Zum anderen weist sie der „Furcht“ der Bürgerinnen und Bürger vor Grausamkeit eine besondere Rolle zu. Sie kommt zu dieser Position durch die Beobachtung der Geschichte der Unterdrückung. Furcht und Vorurteil seien „in der überwältigenden Mehrzahl der Fälle von Regierungen ausgegangen“. Soziale Unterdrückung habe zahlreiche Quellen, „doch zeitigt keine von ihnen die gleichen tödlichen Folgen, wie sie die Agenten des modernen Staates heraufbeschwören können, die über einzigartige Zwangs- und Überzeugungsmittel verfügen“ (S. 27). Der Liberalismus sei in den Religionskriegen des 17. Jahrhunderts entstanden, als man die Grausamkeit der Durchsetzung religiöser Doktrinen erleben musste. Die Idee der Toleranz sollte dem Schrecken entgegengesetzt werden.

Ihr „Liberalismus der Furcht“ zielt darauf ab, dem Staat diese Übergriffe nicht mehr möglich zu machen. Er zieht deswegen eine Grenze zwischen Öffentlichem und Privatem und kämpft darum, einen Einfluss des Staates auf das Private zu verhindern. Die Zwangsmittel des Staates dürfen nicht in das Privatleben eingreifen und auch im öffentlichen Raum sind sie einzuschränken.

Es hebt Shklar von vielen anderen ab, wie konsequent sie diese Position weiterträgt. Sie scheut davor zurück ein positives liberales Projekt zu zeichnen. Sie schlägt nicht die Durchsetzung eines liberalen Staates vor, der bestimmte Ziele haben sollte. Auch die alte Partnerschaft mit den Naturwissenschaften, die wichtig war, religiösen Dogmatismus zu überwinden, ist nicht völlig kompatibel mit ihren Ansichten: Zu oft wurde die Idee der wissenschaftlichen „Wahrheit“ genutzt, um staatliche Politik gegen die individuelle Freiheit zu begründen.

Sie grenzt sich auch von Skeptikern ab, die ihre Sicht der Toleranz auf der Basis der begrenzter Richtigkeit von Aussagen entwickelt haben. Skeptiker argumentieren, dass unterschiedliche Meinungen zu akzeptieren seien, weil ein religiöser oder wissenschaftlicher Wahrheitsbegriff obsolet sei. Shklar teilt diese Auffassung, bringt ihren „Liberalismus der Furcht“ aber auch gegen die Skeptiker in Stellung. „Man kann sich unschwer eine Gesellschaft ausmalen, die von äußerst repressiven Skeptikern regiert wird, die beispielsweise mit Nachdruck Nietzsches politischen Ideen folgen.“ (S. 35)

Ebenso grenzt sie sich von John Locke und Thomas Hobbes ab (in dessen „Leviathan“ umfasse die Gesellschaftsvertragstheorie autoritäre Ziele) (S. 33), von einem Liberalismus der Naturrechte (ziele auf eine dauerhafte Erfüllung einer idealen vorherbestimmten normativen Ordnung ab) (S. 37) und von John Stuart Mill (wolle „gesellschaftlichen Fortschritt“ vor allem im Sinn von mehr Freiheit) (S. 39).

Was bleibt dann aber? „Seine intellektuelle Bescheidenheit bedeutet aber nicht, dass der Liberalismus der Furcht inhaltsleer wäre, sondern lediglich, dass er vollkommen nicht-utopisch ist.“ (S. 37) Angesichts der Tatsache, dass jene Ungleichverteilung von Militär-, Polizei- und Überzeugungsmacht, die man Regierung nennt, unumgänglich ist, gibt es offensichtlich immer viel zu fürchten. Der Liberalismus der Furcht  konzentriert sich auf Schadensbegrenzung. Es geht um die Freiheit von Machtmissbrauch und der Einschüchterung Wehrloser.

Shklar geht dann noch einen Schritt weiter. Sie fragt, wie denn der Einzelne Ressourcen gegen Willkür in die Hand bekommen kann. Natürlich zählt das Wahlrecht dazu. Und sie nennt auch das private Eigentum als Werkzeug für die Selbstbestimmung. (S. 48) Nun kommt aber argumentativ ihre Herangehensweise zum Zug, die am Beginn ihres Liberalismus der Furcht stand: Der Blick auf die Geschichte aus der Perspektive der Wehrlosen, der Schwachen. Das führt dazu, dass auch die Frage des Privateigentums aus der Sicht der Schwachen angegangen wird: Shklar hält wirtschaftliche Unabhängigkeit für Nichtvermögende für essentiell. Axel Honneth erinnert in seiner Einleitung daran, dass Shklar der Auffassung war, dass „der demokratisch gewählte Staat dafür Sorge tragen (muss), dass keiner um den Verlust seines Arbeitsplatzes oder seiner wirtschaftlichen Unabhängigkeit zu fürchten hat“ (S. 21) Der radikalen Freiheit des Privaten wird eine staatliche Beschäftigungsgarantie zur Seite gestellt: Wieder eine Position, die den Liberalismus von Shklar unterscheidbar macht von vorherrschenden Interpretationen. Und (unter anderem) damit ist auch der Liberalismus des Isaiah Berlin nicht der ihre, denn er trenne seine „negative Freiheit“, die Freiheit von etwas, von ihren Voraussetzungen, wie materieller Sicherheit. S.W.

Shklar, Judith N.: Liberalismus der Furcht. Mit einem Vorw. v. Axel Honneth u. Essays v. Michael Walzer ... Berlin: Matthes u. Seitz, 2013. 175 S.,€ 14,80 [D], 15,20 [A], sFr 20,70 ; ISBN 978-3-88221-979-1