Leben ohne Vermächtnis?

Ausgabe: 2018 | 1
Leben ohne Vermächtnis?

Mit DIE ZEIT veröffentlicht Jutta Allmendinger ein Buch über eine lebenswerte Zukunft in DeutschlandIn diesem Buch geht es um „das Vermächtnis, das Heute und das Morgen“ (S. 16), und zwar um die jeweiligen Befindlichkeiten und Vorstellungen in der Bevölkerung Deutschlands zu diesen drei Kategorien. Konzipiert und durchgeführt wurde die zugrunde liegende Studie vom Wissenschaftszentrum Berlin, dem Meinungsforschungsinstitut infas und der Wochenzeitung Die Zeit im Jahr 2015. Befragt wurden 3100 Menschen im Alter zwischen 14 und 80 Jahren in Deutschland. Das Buch beinhaltet auch die Ergebnisse einer 2016 erfolgten Wiederholungsbefragung und stellt eine vereinfachte Zusammenfassung durch die Leiterin der Gesamtstudie, Jutta Allmendinger, dar (vom WZB separat veröffentlicht). Die Autorin bezeichnet es als „Lesebuch“ sowie als „Vermächtnisstudie“ (S. 15), weil es unter anderem darum geht zu erfahren, welche Werte den Menschen wichtig sind, wie sie diese selbst leben und welche sie davon an die nächste Generation weitergeben möchten.

Kurz gefasst lauten die gestellten Fragen: „Wie ist es heute?“, „Wie soll es werden?“, „Wie wird es sein?“ Dieser zeitlich-subjektive Dreiklang wurde in durchschnittlich einstündigen Interviews erforscht. Und diese traditionelle Forschungsmethode wurde ergänzt durch Reaktionen und Erläuterungen der Menschen zu drei Arten von „Sinneseindrücken“, denen sie ausgesetzt wurden: Riechen (vier Düfte), Fühlen (anfassen von Materialien) und Hören (Rhythmen). Erwartet wurde hierdurch, dass die Befragten ihre derzeitige Befindlichkeit/Lage sowie künftige Entwicklungen anders als nur kognitiv wahrnehmen und artikulieren. Dies scheint allerdings nur unzureichend gelungen, da es sich um äußerst subjektive Phänomene handelt, eben um Geschmacksachen, und um vage Interpretationen, wie z. B. umdie Frage: „Was bedeutet es, wenn man den nachfolgenden Generationen einen ‚rosigen Duft‘ wünscht? Welche Zukunft erwartet man, wenn man glaubt, dass sie von einem ‚wechselhaften Rhythmus‘ geprägt sein wird?“ (S. 79) Gleichwohl sollte in der Zukunftsforschung experimentiert werden und ist es legitim, derartige Sinnesangebote auch zu nutzen. Denn über die von den Menschen erwartete Zukunft heißt es z. B.: „Hier hat der Duft die größte Aussagekraft“ (S. 81) und wenn man ihre Auswahl von Sinnesreizen für bestimmte Bereiche kenne, ließen sich deren Einstellungen voraussagen. Allerdings erfordert dies ein hohes Maß an Sensitivität und Klärung, und dürfte mit knappen Dialogen – wie in dieser Studie – nicht angemessen zu bearbeiten sein.

Mit dieser sehr aufwändigen Vermächtnisstudie werden Ergebnisse vorgelegt, mit denen frühere Studien zu Teilaspekten weitgehend bestätigt werden, hier aber in thematischen und zeitlichen Beziehungen beschreibbar und interpretierbar sind. So unterstreicht Allmendinger, dass künftig Bildung noch viel stärker zu fördern sei, fordert eine „Kultur der Weiterbildung“ und schlägt „eine vorausschauende, strategische Qualifizierungspolitik“ vor (239). Festgestellt wird, dass durch die Ereignisse der jüngsten Zeit (Flüchtlinge, Brexit etc.) die der Politik zugesprochene Relevanz gestiegen sei. Es werde mehr erwartet, wenn auch nicht erhofft. Leider wird die Kluft zwischen geäußerten Idealen und Vermächtnissen sowie  der gelebten bzw. erwarteten Realität nur am Rande thematisiert. Denn das zugespitzte Fazit lautet: Wir Heutigen sind überfordert, schaffen es nicht gemäß unserer Ideale zu leben, daher sollen es künftige Generationen machen. Hier wäre die Wechselwirkung mit gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen ein Fokus, der künftig intensiviert werden sollte – inklusive der erforderlichen Transformation zu Nachhaltigkeit. Edgar Göll

 

Bei Amazon kaufenAllmendinger, Jutta: Das Land, in dem wir leben wollen. Wie die Deutschen sich ihre Zukunft vorstellen. München: Pantheon Verl., 2017. 270 S., € 16,99 [D], 17,50 [A] ; ISBN 978-3-570-55347-3