Kritik des Neoliberalismus

Ausgabe: 2008 | 3

Welche Rolle wird zukünftig den Nationalstaaten zukommen? Sind sie zu Marionetten des internationalen Kapitals verkommen, denen immer mehr Handlungsspielräume genommen werden, oder verbirgt sich hinter dem Reden vom Bedeutungsverlust des Staates eine ideologische Falle, um diesen bewusst zu schwächen? Die Sozialwissenschaftler der Universität Köln Christoph Butterwege, Bettina Lösch und Ralf Ptak formulieren in ihrem Band „Kritik des Neoliberalismus“ als zentrale These, dass die Diskurse über die Transformation des Staates auf seine Demontage als Instanz der Umverteilung zielen. Das Kapital brauche einen „starken Staat“, der ihnen (Rechts-)Sicherheit gibt, aber keinen „sozialen Staat“. Daher werde auch bewusst eine Aushöhlung des Parlamentarismus betrieben. Privatisierung und Liberalisierung seien in diesem Sinne als Strategien zur „Selbstentmachtung des öffentlichen Sektors“ zu sehen. Sozialstaatskritik ziele auf die Reduzierung sozialer Leistungen und generell auf die „Erosion des Gerechtigkeitsbegriffs“, was sich, so C. Butterwege, in der Transformation von der „Bedarfs- zur Leistungsgerechtigkeit“, der „Verteilungs- zur Beteiligungsgerechtigkeit“ sowie der sozialen zur „Generati-

 

onengerechtigkeit“ zeige. „Freiheit“ und „Eigenverantwortlichkeit“ würden missbraucht als Formeln zur Rechtfertigung der wachsenden sozialen Ungleichheit. Chiffren wie „Generationengerechtigkeit“ oder „Bildung für die Armen“ sollen von der Umverteilung des Reichtums ablenken. Der postulierte „schlanke Staat“ führe so zur „abgemagerten Demokratie“. Diese reduziere sich im neoliberalen Denken auf die Abfrage von Meinungsbildern bzw. auf eine reine Abstimmungsmaschinerie: „Im Mittelpunkt steht nicht der demokratische Akt der Willensbildung, sondern allenfalls ein Ereignis, etwa der Wahlakt. Dieser wird in Analogie zu anderen Events betrachtet und erhält einen ähnlichen Stellenwert wie jedwede beliebige TV-Show, in der das Publikum die Möglichkeit hat, einen Kandidaten oder einen Superstar auszuwählen.“ (B. Lösch, S. 237) Das Credo der Autorin: „Anstatt das Politische nach ökonomischen Prinzipien auszurichten, müsste das Ökonomische wieder stärker politisch gedacht werden.“ (S. 239)

 

Es gibt freilich auch andere Stimmen, die den „Sozialstaat Deutschland“ für reformüberfällig halten. Als prononcierter Vertreter einer Renaissance der Bürgergesellschaft gilt der Historiker Paul Nolte, der von „gesellschaftlicher Mitte“ als Träger des demokratischen Systems und des Gemeinsinns spricht. Die öffentliche Debatte werde so geführt, als gäbe es in Deutschland nur mehr Hartz IV-Empfänger und Ackermänner, meint Nolte provokant. Vergessen werde dabei die breite Mittelklasse, neben den von der rot-grünen Regierung erstmals publizierten Armuts- und Reichtumsbericht brauche Deutschland auch einen „Mittelstandsbericht“. Der neue Kapitalismus und die globalen Veränderungen würden entschiedenes Handeln gerade der Mittelschichten verlangen, doch der Historiker ortet eine große Angst vor Risiken  sowie eine bedenkliche Ausbreitung der „Transfermentalität, die auch bei gesichertem, ja gutem Einkommen eine Subventionierung des eigenen Lebens durch den Staat erwartet“ (S. 143). Die riskante Moderne brauche einen starken, sozial handlungsfähigen Staat, sie brauche aber auch „starke Individuen“ sowie „starke soziale Netzwerke“, „weil der Staat die Folgekosten von Individualisierung nicht allein, jedenfalls nicht allein mit den Mitteln sozialstaatlicher Alimentation, tragen kann“ (S. 23). Der moderne Staat könne daher den Bürgern nicht alle persönlichen Lebensrisiken auf dem Wege des „Nachteilsausgleichs“ abnehmen. Nolte diagnostiziert die Flucht in eine „Nischengesellschaft“, in der sich die Menschen „Rückzugsräume“ bauen, „Überwinterungszellen, in denen sie ihr relativ ungestörtes Auskommen haben“ (S. 19), ohne sich den Herausforderungen einer riskanten Moderne stellen zu müssen: „der Herausforderung des privaten Lebens, der Herausforderung der kalten Märkte und der gesellschaftlichen Verantwortung“ (ebd.). Die Nischen würden oft aber nur vordergründig Sicherheit versprechen, sie entziehen sich der Solidarität und führen durch den Rückzug in ein „bloß noch privat geführtes Leben“ zur Gefahr, „Demokratie und Öffentlichkeit nur noch als Gewährleistungsagenturen der privaten Ungestörtheit zu betrachten“ (ebd.). Noltes Forderung nach einer „investiven Gesellschaft“, die er als Alternative zur Konsumgesellschaft propagiert, hat durchaus Berechtigung; sie wird dort zur Gefahr, wo sie der Ablenkung von Vermögens-, Besitz- und Chancenstrukturen dient, die keineswegs auf Leistung basieren, sondern auf einem kapitalistischen Privilegiensystem, das Vermögende per se bevorzugt (Kapitaleinkommen als de facto arbeitslose Einkommen) und auch einem Chancen verteilenden Staat das Wasser abgräbt, eine Intention, die der Autor freilich von sich weist.

 

Schon vom Titel her eine entgegengesetzte Haltung vermittelt der Band „Wir privatisieren uns zu Tode. Wie uns der Staat an die Wirtschaft verkauft.“ Der Journalist Rüdiger Liedtke, u. a. Verfasser eines Jahrbuchs „Wem gehört die Republik?“, spricht von einem „Privatisierungswahn“, der sich auch auf Deutschland ausgebreitet habe und alles erfasse: von der Daseinsvorsorge über die Krankenbehandlung bis zur Müllentsorgung, von der Schule bis zur Sicherheit. Liedtke beschreibt, was bereits an Privatisierungen im Gange ist, was von dieser – in seiner Diktion – bedroht wird und was es dabei zu verlieren gibt. Internationale Beispiele fehlgelaufener Privatisierungsprojekte werden hierfür als warnende Belege angeführt. Im Kontext politischer Steuerungsfähigkeit relevant sind die Ausführungen über Veräußerungen von Staatsvermögen, um die finanzielle Manövrierfähigkeit zu erhalten. Der Autor formuliert spritzig („Die Bahn fährt an die Börse – und alle müssen mit“), manche Darstellungen mögen überzogen wirken, die Warnungen vor dem Allheilmittel „Privatisierung“ tun aber gut angesichts der ideologischen Vereinfachung, der gemäß alles Staatliche ineffizient und das Private immer effizient sei. Manches bringt Liedtke auch sehr einfach auf den Punkt, etwa wenn er über die private Pensionsvorsorge schreibt, die er nicht zur Gänze ablehnt, deren Grundprinzip er aber hinterfragt: „Beim öffentlichen Rentensystem verdient niemand, beim privaten die Aktionäre“ (S. 196) Und dass die Privatwirtschaft nicht frei von riskanten oder gar kriminellen Geschäften ist, beweisen die vielen Skandale der letzten Zeit (Stichwort Deutsche-Post-Chef Zumwinkel, der auch Thema in Liedtkes Buch ist).

 

Auch Helmut Kuhn zeichnet in „Arm, reich – und dazwischen nichts?“ ein kritisches Bild der deutschen Gegenwartsgesellschaft: 10 Mio. Menschen unter der Armutsgrenze, davon 3 Mio., die arm sind trotz Arbeit, 4 Mio. Arbeitslose; gleichzeitig explodiert der Reichtum der Reichen: das Vermögen der privaten Haushalte erreichte 2005 die 5 Billionen-Grenze, die Zahl derer, die über mindesten 500.000 Euro (frühere DM-Millionäre) verfügen, stieg von 14.000 (1960) auf 1,6 Mio. (2005); die Kaste der „Superreichen“, die mehr als 30 Mio. Euro besitzen (das sind 3.700 Personen), bringen es dabei zusammen auf 612 Mrd. Euro, so vom Autor zitierte Zahlen aus dem Armutsbericht der Bundesregierung. Als Journalist mischt Kuhn Reportagen über Arme wie Reiche („Kaiser, König, Bettelmann“) mit Analysen über die Auswirkung von neuen Sozialgesetzen, Steuerreformen und anderen politischen Weichenstellungen, die der Autor mit Anspielung auf die Ich-AGs als „Armen AG – ein Tochterunternehmen von Reichtum Inc.“ bezeichnet. So sehr Nolte zu Recht auf die noch immer ganz gut situierte Mittelschicht Deutschlands verweist (nicht das ganze Land versinkt in Armut), so wichtig ist der Blickwinkel dieser Abhandlung.

 

H. H.

 

 

 

Butterwegge, Christoph; Lösch, Bettina; Ptak, Ralf: Kritik des Neoliberalismus.

 

298 S., € 12,90 [D], 13,30 [A], sFr 23,- ISBN 978-3-531-15185-4

 

 Liedtke, Rüdiger: Wir privatisieren uns zu Tode. Wie uns der Staat an die Wirtschaft verkauft. Bonn: Eichborn, 2007. 262 S., € 14,95 [D], 15,40 [A], sFr 26,70

 

ISBN 978-38218-5677-3

 

 Nolte, Paul: Riskante Moderne. Die Deutschen und der neue Kapitalismus. München: dtv, 2007. 312 S., € 10,-[D], 10,30 [A], sFr 17,80

 

ISBN 978-3-423-34440-1

 

 Kuhn, Helmut: Arm, reich – und nichts dazwischen? Streifzüge durch eine veränderte Gesellschaft. Bergisch-Gladbach: Lübbe, 200. 254 S., € 19,95 [D],

 

20,50 [A], sFr 35,50

 

ISBN 978-3-7857-2311-1