Helmut Willke

Komplexe Freiheit

Ausgabe: 2019 | 3
Komplexe Freiheit

Der Soziologe Helmut Willke beschäftigt sich mit dem Menschenrecht der „Freiheit“ aus der Perspektive der Systemtheorie: Freiheit wird als komplexes Konstrukt verstanden, welches untrennbar mit Demokratie verbunden ist. Zwei große Megatrends der Moderne bedrohen aktuell die Freiheit und damit die Demokratie: die Globalisierung und die Digitalisierung.

Globalisierung schafft zunächst neue Freiheitsräume durch Entgrenzung, doch bedroht sie Freiheit, wo sie Demokratie unterminiert. Als „Semi-Souveränität“ bezeichnet Willke das Phänomen, welches Staaten zunehmend auf Grund kolportierter „Sachzwänge“ in ihrer Steuerungsfähigkeit einschränkt. Als Beispiel nennt er das Wirken der EU-Troika in Griechenland: „Wird nun das Parlament faktisch zu bestimmten Entscheidungen genötigt, wenn auch nur, um damit größeren Schaden abzuwenden, dann schwindet mit dem Souveränitätsanspruch des politischen Systems insgesamt auch das, was Souveränität als Raum freier kollektiver Entscheidung konstituiert – nämlich individuelle Freiheit als Kompetenz autonomer Entscheidungsfindung“ (S. 30). Die mit der Globalisierung aber auch großer globaler Problemlagen einhergehende steigende Komplexität überfordert Nationalstaaten zunehmend, und hier vor allem Demokratien; der Umgang mit dem Klimawandel ist in diesem Zusammenhang etwa ein gutes Exempel. Die Stärkung von autonomen Subsystemen durch Subsidiarität und Föderalisierung könnte eine Lösung sein, freilich nur, wenn politische Steuerungskapazität dadurch nicht noch mehr eingeschränkt wird.

Digitalisierung und Freiheit

Ambivalente Folgen für die Freiheit hat weiterhin die Digitalisierung: Diese mag im ersten Schritt neue Freiräume schaffen, doch: „Die Währung, in der die neuen Freiheiten bezahlt werden, ist tolerierte Unfreiheit“ (S. 64). Willke kritisiert in diesem Kontext vor allem die großen Internetkonzerne: „Welche Akteurs- und Interessenkonstellationen stehen hinter dem Datenhunger der globalen Netze, und welche (Un-)Freiheitskonzeptionen scheinen dahinter auf?“ (S. 65). Das womöglich größte Problem für die Demokratie seien hier gezielte Manipulationen, wie sie der Facebook-Skandal rund um die Aktivitäten von Cambridge Analytics und deren Eingreifen in den US-Präsidentschaftswahlkampf 2016 gezeigt hat – denn dort, wo manipuliert werde, werden zumindest Entscheidungs- und Handlungsfreiheit empfindlich eingeschränkt. (vgl. S. 67f.)

Willke schlussfolgert, dass die moderne Bedrohung der Freiheit die Manipulation sei. (vgl. S. 91) Deswegen plädiert er für eine neue „Grammatik der Freiheit“ (vgl. S. 89), die der neuen Komplexität von Gesellschaft gewachsen ist. Dazu braucht es ein Zusammenspiel vieler verschiedener Arten von Freiheit – individuelle Freiheit, Zugang zu Wissen, gleichzeitig aber das Einsehen, dass in einer hochkomplexen Welt nicht mehr alles gewusst werden kann und ExpertInnen eine immer wichtigere Rolle spielen. Auch der wirtschaftlichen Ungleichheit muss der Kampf angesagt werden: „Eine Freiheitstheorie muss sich mit der Ungleichheit der Einkommensverteilung beschäftigen, weil wirtschaftliche Ungleichheit zwar nicht zwingend, aber im Regelfall zu einer Kaskade sozialer Benachteiligungen führt, die am Ende bedeutet, dass der Freiheitsraum einer disprivilegierten Person sukzessive eingeschränkt und die Ungerechtigkeit der Verteilung zu einer generellen Bedrohung der Freiheit wird“ (S. 110).

"Überforderung durch Komplexität" 

Ein großes Problem für die Freiheit ist die „Überforderung durch Komplexität“ (vgl. S. 139), welcher durch Subsidiarität und Föderalität begegnet werden soll. Neben dem traditionellen vertikalen Machtgefüge einer Demokratie (Zentralregierung – Land – Region – Gemeinde) soll es eine horizontale Dezentralisierung von Steuerungsaufgaben geben: Alles, was in gesellschaftlichen Subsystemen (zum Beispiel Bildungssystem, Gesundheitssystem) selbst entschieden werden kann, soll die Politik nicht kümmern (vgl. S. 150).

Willke beschließt seine Ausführungen mit der Feststellung, dass Freiheit immer von den Qualitäten der jeweiligen Gesellschaft abhängt. Der Nationalstaat, falls demokratisch, bleibt der wichtigste Garant von Freiheit – was durchaus nicht als Rückzug aufs Nationale gemeint ist. Vielmehr sollten nationalstaatliche Steuerungssysteme in multilaterale Regelungen Einzug halten und eine Demokratisierung dieser ermöglichen – in Form eines Mehrebenensystems, welches von der lokalen bis zur globalen Ebene verschiedene Möglichkeiten zum freien Handeln bietet.

Bereits der Buchtitel „Komplexe Freiheit“ weist darauf hin, dass sich diese Abhandlung eher an ein Fachpublikum richtet. Mitunter sehr dicht, legt Willke einen neuen Zugang zum Freiheitsbegriff offen, der über das politische System definiert wird. Ein wichtiger Beitrag zur Arbeit am Begriff „Freiheit“ als eines der zentralsten Menschenrechte, der die Vielschichtigkeit des Begriffs intensiv aufarbeitet.