Knappheit

Ausgabe: 2013 | 4

Ganz in der Gegenwart der Diskussion über Gerechtigkeit ist man mit dem Buch von Sendhil Mullainathan und Eldar Shafir angekommen. Die Dynamiken der Ungerechtigkeit werden darin ins Visier genommen. In ihrem Buch „Knappheit. Was es mit uns macht, wenn wir zu wenig haben“, erklären sie, warum Armut zu Armut führt. Der Schlüssel dies zu verstehen sei eine Wissenschaft der Knappheit.

Das Argument der amerikanischen Autoren: Wir alle kennen die Situation, dass wir Arbeiten, für die ein Abgabetermin weit entfernt ist, schleifen lassen. Erst mit nahendem Termin kommt man in die Gänge. Dabei ist man dann unter dem Druck der Zeitknappheit in der Lage, sich zu konzentrieren und zumeist entsteht das fertige Produkt doch noch rechtzeitig. Man fokussiert sich unter Druck auf das anstehende Problem.

Diese Fokussierung unter Zeitdruck hat aber auch eine andere Seite, die auch den meisten Leserinnen und Lesern plausibel sein sollte. Umso mehr man sich auf ein akutes Thema konzentriert, desto mehr blendet man andere Fragen aus. Es entsteht ein Tunnelblick, der die Konzentration auf die Aufgabe fördert, für die nur mehr wenig Zeit verfügbar ist. Man ist jetzt in Gedanken wirklich woanders und kann zum Beispiel nicht merken, dass es dem Kollegen momentan schlecht geht.

Mullainathan und Shafir überprüfen und bestätigen diesen Vorgang mit verschiedenen Argumenten. Dann führen sie den Begriff der „Bandbreite“ ein. „Die Bandbreite ist ein Maß für unsere Fähigkeit, zu rechnen, Aufmerksamkeit zu zeigen, gute Entscheidungen zu treffen, unsere Pläne einzuhalten und Ablenkungen zu widerstehen.“ (S. 56) Jeder Mensch habe eine bestimmte Bandbreite, die er einsetzt, um seinen Aufgaben gewachsen zu sein. Fokussiert man auf ein aktuelles Thema, setzt man einen großen Teil der Bandbreite für ein Thema ein und hat weniger Aufmerksamkeit für Anderes.

Knappheit an Bandbreite bedeutet nun, dass dieses Kapital bereits großteils verbraucht ist. Umso knapper verbleibende Aufmerksamkeitsfähigkeit ist, desto schwächer wird man in den „Nebenfragen“ abschneiden: bei Entscheidungen, Berechnungen, dem Erfassen von Stimmungen und anderem.

Welche Personengruppen haben nun eine besondere Knappheit an Bandbreite. Die Autoren sagen, dass finanzielle Sorgen viele Menschen erheblich beschäftigen. Und umso größer finanzielle Sorgen sind bzw. finanzielle Knappheit ist, desto weniger Bandbreite bleibt für die Erledigung anderer Aufgaben.

Auch diese Annahme wird in der Folge getestet. Es stellt sich dabei heraus, dass tatsächlich allgemeine Belastungen und Sorgen die Qualität unabhängiger Entscheidungen einschränken. Allein das Erinnern an Geldsorgen bei Armen beeinträchtigte die kognitive Leistung sogar noch mehr als schwerwiegender Schlafentzug. (S. 67)

Armut führt zu Sorgen, Sorgen führen zu einer Knappheit an Aufmerksamkeit für andere Themen, diese mangelnde Auferksamkeit führt zu Fehlentscheidungen. Fehlentscheidungen verschärfen Armut. Das erklärt auch, weshalb vor allem ärmere Menschen schlechte Finanzprodukte kaufen. Mullainathan und Shafir zeigen anhand von Experimenten, dass der oben skizzierte Vorgang nicht mit einer mangelnden Intelligenz von Armen zu belegen wäre. Dazu führen sie Intelligenztests an, die an ein und derselben Person durchgeführt wurden. Unter dem Druck der Knappheit fiel der Test um 13 bis 14 IQ-Punkte schwächer aus. (S. 67)

„Lärm von außen“ lenkt ab, „Lärm von Innen“ durch Sorgen und Belastungen aber auch. Das Buch rät deshalb dazu, Armen zu helfen, mit Knappheit besser umzugehen. Dies bedeutet eine Absicherung durch den Staat genauso wie Unterstützung durch Unternehmen. Kleine Stupser, „Nudges“ wie es Richard Thaler und Cass Sunstein nannten (ProZukunft 1/2010), können helfen. Arme vergessen öfter Medikamente pünktlich einzunehmen: Ein klassisches Beispiel für knappe Bandbreite, würden die Autoren sagen. Es gibt aber längst Pillenschachteln, die sich zu Wort melden, wenn sie links liegen gelassen werden. Sie würden den Leuten die Sorge abnehmen, sich an die Annahmezeiten zu erinnern. Oder ein anderes Beispiel: Angestellte mit Geldsorgen arbeiten schlechter, oft treffen sie dann auch noch schlechtere Entscheidungen für neue Kredite oder Umschuldungen. Zahlt es sich nicht für Unternehmen aus, seinen Mitarbeiterinnen oder Mitarbeitern in dieser Situation gute Finanzprodukte anzubieten?

Im Kontext der Debatte über Gerechtigkeit beschreibt das Buch sehr anschaulich die Eigendynamik der Armut. Knappheit ist dabei der Mechanismus, der soziale Mobilität unterläuft.

Das Buch schließt damit gut dort an, worüber in den vergangenen Jahren nachgedacht wurde. Kern ist die Kritik der neoliberalen Annahme, dass der freie Markt mit rationalen Akteuren besiedelt sei, die ihr eigenes Glück schmieden. Daniel Kahnemans Buch „Schnelles Denken, Langsames Denken“ (ProZukunft 1/2013) legte eine Reihe von Beispielen dar, wie wir Menschen immer wieder schnelle und falsche Schlüsse ziehen. Nassim Talebs „Der schwarze Schwan“ (ProZukunft 1/2010) hat ebenfalls die rationale Berechenbarkeit von Ergebnissen gesellschaftlichen Verhaltens aufgrund von „seltenen Ereignisse mit sehr großen Auswirkungen“ in Frage gestellt. Mullainathan und Shafir zeigen nun die soziale Ungleichverteilung dieser falschen Entscheidungen. S. W.

Mullainathan, Sendil; Shafir, Eldar: Knappheit: Was es mit uns macht, wenn wir zu wenig haben. Frankfurt: Campus, 2013. 303 S. € 24,99 [D], 25,70 [A], sFr 37,48 ;

ISBN 978-3-593-39677-4