Keine Wissenschaft für sich

Ausgabe: 2009 | 2

Wie und wozu forschen wir?

 

 

 

Wie und wozu sollen wir forschen? Wer entscheidet über gesellschaftliche Relevanz? Liegt die Zukunft in der Konzentration auf Eliten und Exzellenzen, oder ist die breite Anhebung der Bildungsstandards vorrangig, um im Wettbewerb der globalen Wissensgesellschaften bestehen zu können? Was leisten Kultur- und Geisteswissenschaften heute? Sind sie gewappnet, um dringenden Herausforderungen zu begegnen oder gar Voraussetzung für das Verstehen von Wissenschaft generell? Was sind die Bedingungen für Innovation. Man sieht: Spannende Themen und Positionen prägen den aktuellen Diskurs, wie die im Folgenden vorgestellten Publikationen zeigen.

 

 

 

 

 

Wer entscheidet über Ziele?

 

Um bis zum Jahr 2010 zur wettbewerbsstärksten und dynamischsten Region zu werden, haben sich die Mitgliedstaaten der EU zum Ziel gesetzt, mindestens 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Forschung und Entwicklung auszugeben; doch schon heute fehlen in der EU rund 700.000 WissenschaftlerInnen, 10 Prozent davon in Deutschland, und während die Quote der ForscherInnen in den USA bei 8,1 und in Japan bei 9,1 pro tausend Beschäftigten liegt, sind es in Europa nicht mehr als 5,6. Zahlen wie diese verdeutlichen, wie sehr Anspruch und Wirklichkeit auch im Bereich der Forschung auseinander liegen und belegen die Dringlichkeit eines kontinuierlichen Diskurses über die Voraussetzungen und Ziele zeitgemäßer Wissenschaft(s-) und Forschung(spolitik). Ein vom deutschen Forschungsministerium edierter Band leistet dazu einen herausragenden Beitrag, denn selten sind gleichermaßen fundierte wie dezidiert auch gegensätzliche Positionen zum Thema an einer Stelle versammelt zu finden.

 

Peter Weingart eröffnet den ersten Abschnitt mit Beiträgen zur „Wissens-Gesellschaft“ mit der Frage, wer denn in einer Gesellschaft über die Relevanz von Forschung entscheidet und stellt diesbezüglich eine „spezifische Asymmetrie zwischen Regierung und Wissenschaft“ fest. Neben der „inneren Steuerung“ von Forschungsprozessen hätten Forschungsprogramme zwar eine selektive beziehungsweise steuernde Wirkung – die USA etwa geben rund die Hälfte der staatlichen Forschungsaufwendungen für militärische Zwecke aus, in Deutschland sind es hingegen weniger als 5 Prozent –, doch sei es letztlich die Wissenschaft selbst, „die ihrerseits ständig neue Relevanzen schafft“. Da Innovation weder als Bedingung noch als Garant von Relevanz festgemacht werden könne, gelte es „die Gesellschaft für Veränderungen offen zu halten und die Wissenschaft in ihrer Vielfalt zu fördern“ (S. 24). Dass die Bedeutung von Forschungsthemen kurzfristig nicht erkannt und daher auch nicht in Programmen von zwei oder drei Jahren Dauer angemessen gestaltet werden könne, wird auch in anderen Beiträgen deutlich. Anderseits – so etwa Ulla Burchardt – aber „erfordert Wissensgesellschaft eine globale Gestaltungsperspektive, um Frieden zu sichern, Demokratie zu fördern, Menschenrechte zu schützen“, und plädiert daher für eine „Außenwissenschaftspolitik“ (S. 83).

 

Harald Welzer setzt sich mit dem „gravierenden Vermittlungsproblem“ der Geistes- und Kulturwissenschaften auseinander, und beklagt, dass deren „spezialistische Esotisierung zu einem Mangel an Unterscheidungsvermögen geführt hat, welche Entwicklungen der Betrachtung wert sind und welche nicht“ (S. 29). Die Geistes- und Kulturwissenschaften seien „normalitätsfixiert und katastrophenblind“ (S. 30), kritisiert Welzer und wünscht sich von diesen mehr Mut und politische Sensibilität (etwa durch den Blick auf die sozialen Folgen des Klimawandels, vgl. PZ 4/2008). Dem Zusammenhang von Macht und Wissen, das er als „Modell für die Wirklichkeit“ sowie als „Fähigkeit zum Handeln“ definiert (S. 53), widmet sich der Soziologe Nico Stehr. In seiner „Revision“ der von Charles P. Snow entwickelten Theorie der beiden „Wissenschaftskulturen“ plädiert er u. a. dafür, die Differenz von Labor- und Anwendungsrealitäten stärker zu reflektieren. „Aufgabe der Wissenschaften sei nicht die Verkündung gesicherten Wissens, sondern das Management von Unsicherheiten“. „Voraussetzung dafür ist der Austausch mit Politik und Öffentlichkeit über die Unsicherheit und Revidierbarkeit der eigenen Erkenntnisse“ (S. 59).

 

 

 

Kunst als Vermittler von Wissenschaft

 

Ernst P. Fischer, Wissenschaftshistoriker und –journalist, setzt sich mit der Vermittlungspraxis von Themen der Wissenschaft auseinander. In Talkrunden und Zeitungen würden sie meist nur erörtert, „wenn etwas schiefläuft“ (S. 69); doch auch die mit großem Aufwand initiierten Versuche der Selbstdarstellung, die unter dem Titel „Public Understanding of Science“ dargeboten werden, liefen „überwiegend ins Leere“. Um Wissenschaft angemessen zu vermitteln, sie verstehbar zu machen und für sie zu begeistern, sei es ratsam, sich der gemeinsamen Geschichte von Künsten und Wissenschaft zu versichern und diese „auf höherer Ebene wieder zusammenzuführen“. Fischer erinnert an den amerikanischen Schriftsteller Raymond Chandler, für den außer Zweifel stand, dass „der Weg zum Herzen der Menschen nur über die Kunst führt. So wie Kunst ohne Wissenschaft lächerlich bleibt, so bleibt Wissenschaft ohne Kunst inhuman“ (S. 71). Fischer plädiert für „Wissenschaftsgestaltung“, durch die „wissenschaftliche Erkenntnisse so dargestellt werden, dass der Zusammenhang mit dem Lebensganzen erkennbar und der humane Bezug sichtbar wird, an dem Menschen vor allem interessiert sind“ (S. 74). Im Gegensatz zu Dietrich Schwanitz, der in seinem Bestseller „Bildung. Alles was man wissen muß“ (Erstauflage 1999) die Naturwissenschaften ausdrücklich als Teil der Bildung ausschloss – eine Position, die Fischer dezidiert und m. E. zurecht „dumm und gefährlich“ nennt (vgl. S. 76f.) – plädiert der Autor dafür, „das Wechselspiel von kreativem Künstler und systematischem Forscher zu erkunden“. Ähnlich argumentiert auch Adrienne Goehler, die „den Übergang vom Sozialstaat zur Kulturgesellschaft“ als „eine Phase des umfassenden gesellschaftlichen Übergangs zwischen „nicht mehr und noch nicht“ mit der Metapher „Verflüssigungen“ prägnant beschreibt. „Wo die Hoffnung auf ‚mehr, besser, schneller’ nicht mehr ist, eine Gesellschaft, „deren Leitidee das Kulturelle ist“, sich aber erst am Horizont abzeichnet, tue sich ein Zwischenraum auf, in dem „Ambivalenzen ausgehalten werden müssen“. „Darin sind“, so Goehler, „die Wissenschaften wie die Künste geübt, denn sie sind von Hause aus spezialisiert auf Übergänge, zwischen Gewissheiten und Laboratorien. Von ihnen muss die Gesellschaft lernen, den individuellen, kollektiven und politischen Mut aufzubringen, sich diesen Zwischenraum zu vergegenwärtigen und ihn aushalten zu können …“ (S. 127). Die Einbindung von Initiativen der Zivilgesellschaft in universitäre Aktivitäten sieht die Autorin als eine kaum noch beschrittene Möglichkeit zur Entwicklung der Kulturgesellschaft des 21. Jahrhunderts, in der die von Richard Florida diagnostizierten drei „T’s“ (Technologie, Talent und Toleranz) als Leitwerte gelten würden.

 

Weitere in diesem Band erörterte Themen können nur angedeutet werden. Im Abschnitt „Wissens-Politik“ stehen Anforderungen an eine globale Wissensgesellschaft, die Wissenschaft zwischen Kommerzialisierung und Erkenntnisanspruch, die Rolle des deutschen Ethikrates, die Bedeutung der Nachwuchsförderung oder das „Privileg der Privilegierten“ zur Diskussion. (Mit Verve bringt unter diesem Titel Konrad Paul Liessmann schwere Geschütze gegen die bildungspolitische Initiative um Eliten und Exzellenzen in Stellung.

 

Im abschließenden Kapitel „Wissens-Welten“ beschäftigt sich unter anderem Jürgen Mittelstraß mit der Bedeutung von Wissenschaft in technischen Kulturen, wagt Walther Ch. Zimmerli eine „Bologna-Vision“ oder plädiert Hans-Jörg Bullinger unter dem Titel „Weltmärkte und Wettbewerbe“ für eine neue Innovationskultur. W. Sp.

 

Keine Wissenschaft für sich. Essays zur gesellschaftlichen Relevanz von Forschung. Hrsg. v. Annette Schavan. Hamburg: edition Körber-Stiftung, 2008. 204 S., € 16,- [D], 16,50 [A], sFr 28,-

 

ISBN 978-3-89684-124-7