Jenseits der Komfortzone

Ausgabe: 2011 | 2

Wir wissen es längst, die Wachstumsdynamik auf unserem Globus ist mit Nachhaltigkeit nicht kompatibel. Die Weltbevölkerung geht in Richtung zehn Milliarden Menschen (bis 2050), Umweltkatastrophen häufen sich, die Spaltung der Welt in Arm und Reich, die Zunahme des Hungers, der drohende Peak Oil, alles Signale einer angekündigten Katastrophe, wie Franz J. Radermacher in seinem Vorwort bemerkt. Diese Weltkrise beschäftigt zwei renommierte Wissenschaftler, die darin eine fantastische Chance sehen. Sie starten fulminant mit der Aussage, dass aus den Trümmern der bestehenden Zivilisation eine neue Gesellschaft entstehen wird. Woher sie ihren Optimismus nehmen und wie die neue Gesellschaft denn aussehen könnte, diesen Fragen gehen sie in „Jenseits der Komfortzone“ nach. Das Geheimnis liegt dabei im chinesischen Wort „weiji-ji“, das sich aus zwei Teilen zusammensetzt: aus „Gefahr“ und „Chance“, so Mario Raich und Simon L. Dolan im Vorwort zur deutschen Ausgabe. Als Methode verwenden sie das sogenannte Advanced Key Issue Management (AKIM). Die Autoren sind davon ausgegangen, dass sie das nötige komplexe, umfassende Wissen alleine nicht besitzen und haben deshalb versucht, dieses Problem mit Hilfe eines virtuellen Teams zu lösen. Im Endeffekt haben sich über 40 Experten bereit erklärt, als Interviewpartner am Projekt mitzuarbeiten. Zusätzlich wurden weltweit bedeutende Wissenschaftler wie Bertrand Picard oder Humberto Maturana eingeladen, in Kurzbeiträgen zu einzelnen Themen Stellung zu nehmen.

 

Einen der Hauptgründe der gegenwärtigen Krise sehen die Autoren in der dramatisch zunehmenden Beschleunigung aller Prozesse. Wir leben in einer komplexen, schnelllebigen, stark vernetzten globalisierten Welt, in der auch Bedeutung hat, was in entfernten Orten passiert (vgl. 284). Jede getroffene Entscheidung wirkt sich direkt auf unsere Zukunft aus. Für endlose Debatten und erschöpfende Analysen bleibt aber keine Zeit mehr. „Wenn wir jetzt nicht handeln, könnte es sein, dass wir unsere letzte Chance verpassen.“ (S. 283)

 

Die Geschichte lehrt uns, so die Autoren, dass es zahlreiche Berichte von Zivilisationen gibt, die einen Zusammenbruch erlebt, aber nur wenige Beispiele, die eine ernste Krise überwunden haben. Sowohl das Scheitern als auch der Erfolg lässt sich als Folge des Reagierens auf Überbevölkerung und Umweltverschmutzung durch menschliches (Fehl-)Verhalten oder Klimawandel zurückführen.

 

 

 

Nachhaltige Zukunft

 

Bei den in diesem Band diskutierten sechs Kernthemen (Demografie und Migration, Urbanisation und Megastädte, Weltbild und Religion, Umwelt, Arbeit und Unternehmertum, Wissenschaft und Technik, Politik und Kunst) einer nachhaltigen Zukunft geht es, wie oben angesprochen, um multiple Krisenphänomene und eine umfassende, ganzheitliche Herangehensweise bei der Lösungssuche. Als besonders wichtig wird etwa eine zukunftsorientierte Wirtschaftsordnung (vgl. Peter Ulrich in ) erachtet, in der das Wachstumsprinzip von ethisch handelnden Unternehmern abgelöst wird. „Stetes Wachstum soll nicht länger die Grundlage der Ökonomie sein, sondern vom ‚multidimensionalen Wandel‘ ersetzt werden, der sich sowohl in der ‚realen‘ als auch in der ‚virtuellen‘ Welt vollzieht.“ (S. 174)

 

Außerdem müssen wir vom Irrglauben abrücken, wir könnten sowieso nichts bewirken, so Raich/Dolan. Voraussetzung dafür seien aber andere gesellschaftspolitische Rahmenbedingungen, die von den Vorstellungen steten Wachstums, von Gier und Angst und vom Prinzip der Herrschaft ausgehen. „Nur unter Bedingungen, die den Grundsätzen der nachhaltigen Entwicklung, der Verantwortung und der Partnerschaft folgen, haben wir eine Chance, langfristige Lösungen zu entwickeln und umzusetzen.“ (S. 287) Dazu bräuchte es zunächst eine kritische Öffentlichkeit, die eine Wende in der Meinung der Welt auszulösen vermag. Dies wiederum könne letztlich überall zu neuen nachhaltigen Lebensstilen führen. Für die Autoren sind weltweit sich formierende Bürgerbewegungen ein Silberstreif am Horizont. Neue Strukturen auf dem Weg zu einer zukunftsfähigen Lebensweise sind Partnerschaft, Verantwortung, Fürsorge, universelle Werte und eine zukunftsorientierte Wirtschaftsordnung. Leider sind wir von alledem noch meilenweit entfernt, obwohl sich Vorschläge in diese Richtung in den Bücherregalen stapeln. Auch Raich/Dolan glauben fest an unsere Kraft zur Veränderung, allein der Glaube daran scheint zu wenig. Der Band enthält zwar durchaus einige vielversprechende Ansätze, die aber alles in allem eher vage als moralische Appelle daherkommen. In diesem Kapitel finden sich demgegenüber zahlreiche Ansätze für einen zukunftsfähigen Wandel, die mehr Potenzial zur konkreten Umsetzung haben. A. A.

 

Raich, Mario; Dolan, Simon L.: Jenseits der Komfortzone. Wirtschaft und Gesellschaft übermorgen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2010. 312 S., € 29,95 [D], 30,85 [A], sFr 50,90

 

ISBN 978-3-525-40352-5