Ist die Moderne lebensfähig?

Ausgabe: 1996 | 1

Um das tröstliche Fazit gleich vorwegzunehmen: Agnes Heller ist im Grunde eine Geschichtsoptimistin. Die modisch-schicken Thesen von der" Postmoderne", vom Ende des Subjekts, der Philosophie oder gar der Geschichte sind für sie nur Phänomene innerhalb der Moderne und somit Objekte hermeneutischen Verstehens. Sie werden hier als zeitgemäße Äquivalente von Mythen interpretiert, welche den nach vielen Richtungen hin offenen, nur zum Teil vorhersehbaren Möglichkeiten der Moderne wenig gerecht werden. Gerade weil im Zuge der historischen Entwicklung die vormodernen Grundlagen der Gesellschaftsordnung ins Wanken geraten sind, haben sich mit neuen Problemen zugleich auch neue Chancen ergeben, die es in praktischer Arbeit zu erproben gilt. Für die in Ungarn geborene, heute in New York tätige Soziologin hat demnach die Moderne gerade erst begonnen, und was aus ihr wird, liegt an uns.  

In den zehn Aufsätzen dieses Bandes, von denen einige bereits auf Deutsch erschienen sind - wo und wann, wird dem Leser allerdings nicht verraten -, beleuchtet Heller die Moderne aus vielerlei Perspektiven und schöpft dabei aus einem imposanten Wissensfundus. Das Spannungsverhältnis von Freiheit und Glückseligkeit bei Kant wird ebenso kritisch unter die Lupe genommen wie die Rolle der Hermeneutik in den Sozialwissenschaften oder die politische Verantwortung der Philosophen, denen die Autorin das Recht abspricht, sich im akademischen Elfenbeinturm zu verschanzen. Das letzte Kapitel, "Wo sind wir zu Hause?", liest sich schließlich wie eine versteckte Hommage an ihren Lehrer Georg Lukacs. der 1920 die "transzendentale Obdachlosigkeit im modernen Roman diagnostiziert hatte. Da nirgends auf den Zusammenbruch des Ostblocks Bezug genommen wird, dürften die hier versammelten Beiträge vor 1989 entstanden sein. Daß die Thesen und Überlegungen dennoch nicht überholt sind, spricht für ihre Qualität. Die essayistische Form und die assoziative Gedankenführung sind indes geeignet, zu irritieren und zu provozieren. Dies liegt zwar auch daran, daß einer solchen Darstellungsweise im deutschsprachigen Wissenschaftsbetrieb von vornherein und ungeachtet des Inhalts der Geruch unseriösen Schwadronierens anhaftet. So manche Flüchtigkeit und Unschärfe in der Formulierung dürfte aber auch auf Kosten der Übersetzer gehen. R. L.

 

Heller, Agnes: Ist die Moderne lebensfähig? Frankfurt (u.a.): Campus, 1995. 229 S. (Wohlfahrtspolitik und Sozialforschung; 7)