Interessensgesteuerte Fortpflanzungsmedizin und Biotechnik

Ausgabe: 1995 | 1

Angesichts immer neuer Entwicklungen in Fortpflanzungsmedizin und Biotechnik wird seit geraumer Zeit eine ziemlich heftige Diskussion darüber geführt, was die Wissenschaft auf diesem sensiblen Gebiet dürfen soll. Während man in Deutschland aufgrund des NS-Rassenwahns und seiner menschenverachtenden Folgen wenigstens offiziell zur Zurückhaltung neigt, haben im angelsächsischen Raum, insbesondere in den USA, eindeutig Technologiegläubigkeit und Wirtschaftsinteressen die Oberhand und lassen immer weitreichendere Experimente zu.

In dieser Situation meldet sich Claus Koch, ein in Berlin wirkender Publizist, mit einer radikalen Position zu Wort. Für ihn machen Techniken wie in-vitro-Befruchtung, Leihmutterschaft, Einfrieren und Auftauen von Keimzellen und Embryonen unsere herkömmlichen Vorstellungen von Elternschaft und Familie obsolet. Die Möglichkeiten der genetischen und pränatalen Diagnostik stellen aus seiner Sicht das" Menschenrecht auf rücksichtslose Fortpflanzung", den "Fortpflanzungsschlendrian" in Frage, ja begründen Schadenersatzforderungen im Fall von Behinderungen. Die Barrieren gegen Eugenik und selektive Abtreibung würden immer niedriger, präkonzeptionelle Geschlechtsbestimmung und Selektion vor der Nidation, längerfristig auch die Ektogenese immer häufiger werden. Vollends das Human Genome Project, die Kartierung der menschlichen Anlagen, setzt die bisherigen Definitionen von Leib, Leben, Individualität und Identität, Familie und Generationenfolge außer Kraft und macht sie technisch steuerbar, manipulierbar und ersetzbar.

Koch hält in dieser Situation rein gar nichts von den Protesten der Bioethik, die hier menschliche Selbstüberheblichkeit am Werk sieht und Grenzen setzen will - außerdem lehre die Geschichte, daß derartige Reaktionen ohnehin immer zu spät kommen. Vielmehr sieht er in all diesen Entwicklungen die Chance, endlich der dumpfen Natürlichkeit zu entgehen, das Lebendige von überflüssiger Lebensroutine zu reinigen, den Leib in Besitz zu nehmen statt wie bisher umgekehrt, zu einer diaphan hellen Bewußtheit zu gelangen, die Sexualität "von der Entwicklungsfron zur Anarchie" zu befreien, schließlich aufgeklärt mit sich und miteinander umzugehen.

M. R. 

Koch, Claus: Ende der Natürlichkeit. Eine Streitschrift zu Biotechnik und Bio-Moral. München: Hensei; 1994. 192 S., DM 29,80/ sFr 30,50/ öS 233,-